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28.05.2025

5 Fragen an Wolfram Wette – 80 Jahre Ende des Faschismus

Frage 1: 80 Jahre Ende des Faschismus in Deutschland – es gibt kaum noch Zeitzeug*innen und die AfD und andere rechte Kräfte arbeiten an Geschichtsklitterung: Wie halten wir die Lehren aus der NS-Zeit im Gedächtnis der Menschen?

Unsere Erinnerungskultur ist ein zerbrechliches Gebilde. Das Nicht-Wissen und das Vergessen nehmen zu. Nach einer Umfrage der Jewish Claims Conference wissen etwa 40 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in Deutschland nicht, dass in der Zeit des Nationalsozialismus sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Zwölf Prozent der Jugendlichen erklärten, vom Holocaust noch nie gehört zu haben. Noch größer dürfte das Nichtwissen über den deutschen Angriffskrieg auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 sein, dem 27 Millionen Menschen dieses Landes zum Opfer fielen. Das sind alarmierende Vorgänge, die in ihren Wirkungen weit in das Feld der Politik hineinreichen, auch in die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Jahrzehntelang haben uns die traditionsreichen Parolen „Nie wieder Krieg!“ und „Nie wieder Faschismus!“ eine wegweisende Orientierung gegeben. Jetzt können wir nicht mehr sicher sein, in welchem Umfang sie noch wirksam sind.

Das entstandene Vakuum wird von den Rechtsextremen seit mehr als einem Jahrzehnt für ihre eigenen Zwecke genutzt. Sie reden von einem schädlichen „Schuldkult“, dem sich die Deutschen verschrieben hätten; sie versuchen, die Nazi-Zeit zu einem „Vogelschiss in der 1000-jährigen deutschen Geschichte“ kleinzureden; sie werben mit antidemokratischen, nationalistischen, völkischen und fremdenfeindlichen Parolen. Es droht eine schleichende Normalisierung rechtsextremistischen Denkens in größeren Teilen der Gesellschaft unseres Landes. Jahrzehntelang galt die Einsicht, dass unsere Republik als Antiprogramm, als Gegenstück zur Nazi-Barbarei konzipiert wurde und auch mit Leben erfüllt werden konnte. Wir fühlten uns gestützt durch den demokratischen Rechtsstaat und das Friedensgebot unserer Verfassung. Anders als in „Weimar“ wurde dieser politische Rahmen in der Bundesrepublik über viele Jahrzehnte hinweg allseits akzeptiert. Nun müssen wir uns fragen, in welchem Ausmaß diese Errungenschaften inzwischen brüchig geworden sind.

Wie konnte es dazu kommen? Wie nehmen wir heute die Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 und die Befreiung von der terroristischen Nazi-Diktatur wahr? Drei Generationen sind seitdem nachgewachsen. Aus den individuellen Erinnerungen der Kriegsgeneration ist das erlernte – oder eben nicht erlernte – Wissen der Enkel- und Urenkelgeneration geworden. Die Konturen des Zivilisationsbruchs der Nazi- und Kriegszeit sind blasser geworden.

Die niederländische Geschichte mit den Fluten und den Deichen kann uns helfen, die sich wandelnde Geschichte von „Vergangenheitsbewältigung“ und „Erinnerung“ besser zu verstehen – zugleich auch die möglichen Folgen der heute drohenden Gefahren der Vergessens und Beschönigens. Eine wissenschaftliche Untersuchung zu den Flutkatastrophen in Holland, die das Land im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verwüstet haben, führte zu der folgenden Erkenntnis: Die schwersten Deichbrüche geschahen immer wieder in einem Abstand von ungefähr 100 Jahren. „Nach jeder Katastrophe hat die zu dieser Zeit lebende Generation, die den Dammbruch erlebt hat, mit aller Kraft an der Wiederherstellung und Pflege der Deiche gearbeitet. Die nächste Generation hat sich noch gut um den Schutz vor den Fluten gekümmert, weil sie dies von den Alten so gelernt hatte. Aber schon die dritte Generation, die die Katastrophe nicht mehr aus eigenem Erleben kannte, hat sich kaum noch um den Erhalt der Deiche gekümmert. Es war doch alles in Ordnung, es war doch schon lange nichts mehr passiert, die Sicherheit war doch selbstverständlich. Und so wurden die ersten Risse in den Dämmen von vielen nicht ernst genommen. Man wurde oft erst dann wieder aktiv, wenn es schon zu spät war.“

Ähnlich scheint sich die politische Lage in unserem Land zu entwickeln: „Die Dämme bekommen schon wieder an vielen Stellen Risse. Teils aus Unkenntnis, teils aus grober Missachtung unseres historischen Erbes, teils aus gewissenlosem politischem Kalkül und einer erschreckenden Verrohung des Denkens und Handelns in Teilen der Gesellschaft.“ In dieser Lage braucht es natürlich eine verstärkte historisch-politische Bildung, um den nachgewachsenen Generationen die grundlegenden „Nie wieder!“-Lehren zu erklären und sie mit Leben zu erfüllen.

Frage 2: Wie war es um die DFG während der NS-Zeit bestellt?

Der erste deutsche Nationalstaat entstand 1871 durch Krieg und er ging 1945 im Kriege unter. In diesem Zusammenhang betrachtet, war die Weimarer Republik eine „Zwischenkriegszeit“, in welcher der  gesellschaftliche und politische Militarismus, der für diesen Staat charakteristisch war, fortwirkte.

In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg 1914-18 dominierte in der deutschen Gesellschaft eine tief empfundene Friedenssehnsucht. Hunderttausende brachten sie auf den großen „Nie wieder Krieg“-Demonstrationen zum Ausdruck. Aber schon Ende der 1920er-Jahre erhoben die alten nationalistischen und kriegerischen Kräfte wieder ihr Haupt. Der organisierte Pazifismus in Deutschland geriet in die Isolation. Interne Richtungskämpfe behinderten die DFG-Spitze unter Fritz Küster und Generalmajor a. D. Paul Freiherr von Schoenaich in ihrem Kampf gegen den drohenden Faschismus mit dem geschichtsträchtigen Slogan „Hakenkreuz und Stahlhelm sind Deutschlands Untergang!“ sowie gegen den von ihr vorausgesagten Zweiten Weltkrieg. Entscheidend war jedoch der politische Rechtsruck der Gesellschaft. Die nationalistischen politischen Parteien und Verbände erhielten verstärkt Zuspruch. Im Gegenzug gerieten die Anhänger der Demokratie und der Verständigungspolitik mit den Siegermächten des Weltkrieges ins Hintertreffen. Einige erkannten die Gefahr und warnten auf ihren Plakaten mit der Parole „Hitler bedeutet Krieg!“.

Die Pazifisten standen schon lange vor der Machtübernahme der Nazis 1933 auf der Abschussliste der Militärs und Nationalisten. Viele von ihnen erkannten die Gefahr für ihr eigenes Leben und flohen ins Ausland. Unter ihnen waren der weltbekannte Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein und der pazifistische Publizist Kurt Tucholsky. Andere tauchten unter und mieden die Öffentlichkeit. Carl von Ossietzky blieb im Lande, wurde verhaftet und ins Konzentrationslager verschleppt. Der profundeste Kritiker des preußisch-deutschen Militarismus, Friedrich Wilhelm Foerster, hatte Deutschland bereits 1922 Hals über Kopf verlassen, weil ihm das Schicksal Erzbergers und Rathenaus drohte.

Die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG) als mitgliederstärkste Organisation der damaligen Friedensbewegung wurde schon bald nach der Machtübernahme durch die Nazis zerschlagen. Diese gingen dabei so vor, dass sie bereits am 3. März 1933 das Mitgliederorgan der DFG, die Zeitschrift „Das Andere Deutschland“ (AD), „im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ verboten. Am 4. März drang ein großes Polizeiaufgebot in das Büro der DFG und die Redaktionsräume des AD ein und beschlagnahmte sämtliche Akten. Der Herausgeber, Fritz Küster, wurde verhaftet und fünfeinhalb Jahre lang in verschiedenen Konzentrationslagern gefangen gehalten. Schoenaich wurde ebenfalls verhaftet, später aber wieder freigelassen. Damit war die DFG ihres Kommunikationsorgans und ihrer führenden Köpfe beraubt und die Organisation de facto zerstört. Auf lokaler Ebene konnten sich noch einige Ortsgruppen halten und im Geheimen den Zusammenhalt pflegen. Eine Struktur auf höherer Ebene existierte jedoch nicht mehr.

Die von der NS-Regierung in Gang gesetzte Verfolgungswelle gegen ihre politischen Gegner richtete sich vor allem gegen die Pazifisten. Auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reiches vom 25. August 1933 war ein Drittel der Betroffenen Pazifisten. „Von nun an“, konstatiert der Historiker des Pazifismus in Deutschland, Karl Holl, „sollte sich die Geschichte der deutschen Friedensbewegung in lauter gefährdete Einzelschicksale auflösen.“

Frage 3: Wie steht es deiner Meinung nach 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus mit dem Militarismus in Deutschland?

In den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bildeten sich in den beiden deutschen Staaten Zug um Zug – mit etlichen Unterschieden – pazifizierte Gesellschaften heraus. Bei einem Großteil der Deutschen vollzog sich ein tiefgreifender Mentalitätswandel. Die Menschen vermochten sich von ihrer militaristisch geprägten Vergangenheit zu lösen und nach und nach eine Zivilgesellschaft zu gestalten. Sie wollten Demokratie und Frieden. Auch lernten sie, dass es sich selbst auf engerem Raum ohne Krieg gut leben lässt. Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 erschien die Vorstellung, dass die deutsche Gesellschaft „kriegstüchtig“ sein müsse, als abwegig und aus der Zeit gefallen.

Anerkennend schrieb der amerikanische Historiker James Sheehan im Jahre 2008 über „Europas langen Weg zum Frieden“. Auf diesem Kontinent, besonders in Deutschland, habe sich nach 1945 der „Aufstieg des zivilen Staates“ vollzogen. Die militaristischen Tendenzen seien immer mehr zurückgedrängt worden zugunsten der wachsenden Mentalität der Friedfertigkeit. Diese Sicht wird von Analysen der deutschen Historischen Friedensforschung gestützt.

Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung Objekt der Politik war und keine eigenständige Außenpolitik unabhängig von den Supermächten betreiben konnte. Der Kriegsfaktor par excellence im 20. Jahrhundert war seit 1945 ausgeschaltet, was uns in erster Linie eine lange Friedenszeit garantiert hat. Kaum wieder zum Subjekt der Politik geworden, begann die deutsche Außenpolitik erneut auf machtpolitisch orientierten Pfaden zu wandeln, die inzwischen unter europäischem Vorzeichen auf ein neues weltpolitisches Engagement hinauslaufen.

Im Kontext des Ukrainekrieges erleben wir nun seit 2022 ein erschreckendes Wiederaufflammen militaristischer – genauer gesagt: bellizistischer – Denk- und Verhaltensweisen in unserem Land. Das ist einerseits eine Reaktion auf die Aggression Russlands, die nun schon über einen Zeitraum von über drei Jahre hinweg Tod und Zerstörung über die Ukraine gebracht hat. Andererseits erliegen immer mehr Menschen dem Stakkato der von den USA und der NATO gesteuerten Kriegspropaganda, die behauptet, der kriegerische Konfliktaustrag sei ohne Alternative. Dadurch verengte sich das Meinungsspektrum zunehmend. Die Debatten werden giftiger und unversöhnlicher. Inzwischen scheinen fast zwei Drittel der Deutschen den Regierungskurs zu unterstützen.

Das Kulturgut „deutsche Zivilgesellschaft“ steht also unter massivem Druck. Mit „Zeitenwende“ und „Kriegstüchtigkeit“ meinen die Protagonisten nicht nur das deutsche Militär, die Bundeswehr. Ihr Ziel lautet vielmehr, die gesamte Gesellschaft für „den Krieg“ zu ertüchtigen. Begründet wird alles mit der – durch nichts bewiesenen – Behauptung, Putin-Russland habe womöglich die Absicht, sich nach der Ukraine auch das Baltikum und dann andere europäische Länder einzuverleiben. Das ist plattes Feindbilddenken. Es speist sich aus einer Dämonisierung des Kremlchefs als Verkörperung des Bösen, nämlich angeblich immanenter russischer Aggressivität. Die genaue Analyse der längerfristigen Ursachen dieses Krieges könnte helfen, in die Realität zurückzufinden. „Kopfklärungen“ bieten beispielsweise die Autoren Patrik Baab, Jacques Baud, Gabriele Krone-Schmalz, Harald Kujat, John J. Mearsheimer, Emmanuel Todd und Günter Verheugen, um nur einige aus dem Lager der Minderheit zu nennen, die es wagte, sich gegen den Mainstream zu stellen.

Wir vernehmen die Rufe nach personeller Aufrüstung, nach Wiedereinführung der Wehrpflicht, nach Rüstungsforschung an unseren Universitäten und Hochschulen, nach ungebremstem Hochfahren der Waffenproduktion, nach Akzeptanz für eine neue, kriegerische Wirklichkeit. Im Jahr 2025 scheinen die Schleusen für eine unbegrenzte Finanzierung der Aufrüstung vollends geöffnet zu werden.

An Friedensinitiativen hat es die deutsche Regierung dagegen in vergangenen drei Jahren komplett fehlen lassen. Auch hat sie es widerspruchslos hingenommen, dass die führende Macht des Westens bereits im April 2022 Erfolg versprechende Friedensverhandlungen (Istanbul) zwischen Russland und der Ukraine zurückpfiff. Dabei beauftragt unser Grundgesetz doch die Regierung unseres Landes ausdrücklich, „in einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

Frage 4: Was können wir tun, um einem aufflammenden Militarismus und einer vorherrschenden gesellschaftlichen Kriegslogik Einhalt zu gebieten?

Manche befürchten, mit dem Schock, den der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 in der deutschen Bevölkerung ausgelöst hat, sei schlagartig auch die richtungsweisende Parole „Nie wieder Krieg!“ komplett über Bord gegangen. Tatsächlich hat es infolge des Ukrainekrieges im Denken vieler unserer Landsleute so etwas wie eine „Zeitenwende“ gegeben. Zu den guten Nachrichten gehört allerdings, dass sich andere Menschen trotz des Schocks über das Zerbrechen der als sicher geglaubten europäischen Friedensordnung eine kriegskritische Haltung bewahrt haben. Das Drängen auf eine schleunige Kriegsbeendigung durch Verhandlungen als Alternative zu immer neuen, eskalierenden  Waffenlieferungen deutet jedenfalls in diese Richtung. In den beiden ersten Jahren dieses Krieges soll dies – manchen Umfragen zufolge – sogar eine Mehrheit der Bevölkerung gewesen sein. Können wir das als einen Hinweis darauf lesen, dass die Leitlinie „Nie wieder Krieg!“ für viele Menschen trotz der wieder aufgeflammten Kriegsbejahung ihre Gültigkeit nicht verloren hat? Kann man hoffen, dass sich beim anzustrebenden Wiederaufbau einer europäischen Friedensordnung wieder an die zivilisatorischen Errungenschaften aus der Zeit vor dem Ukrainekrieg anknüpfen lässt?

Erneut tut Aufklärung not: Wir können deutlich machen, dass es zu der drohenden Militarisierung und dauerhaften Verfeindung eine Alternative gibt, nämlich die Vision einer „gemeinsamen Sicherheit“, die in Europa schon einmal die Politik bestimmt hat. In der „Charta von Paris für ein neues Europa“ aus dem Jahre 1990 ist alles vorgedacht, was wir brauchen.

Auf dem Wege dorthin müssen wir Feindbilder abbauen helfen, die Akteure der anderen Seite entdämonisieren und über die längerfristigen Ursachen des Ukrainekrieges aufklären. Klaus von Dohnanyis Diktum ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung: „Putin ist der Aggressor, aber die Möglichkeit, den Krieg zu verhindern, lag beim Westen.“ Wir müssen selbst Friedensinitiativen ergreifen und andere unterstützen. Wir müssen für unsere grundlegenden Einsichten werben: Frieden ist möglich und machbar. Verhandeln statt schießen. Diplomatie verlangt Empathie, nicht Sympathie.

Vielleicht erleben wir eine neue Bewegung „von unten“, einen Aufstand der derzeit noch schweigenden Mehrheit in der Bevölkerung für eine Zukunft, die sich noch einmal von der Vision eines friedfertigen „Gemeinsamen Hauses Europa“ leiten lässt. Dabei müssen wir nicht alles neu erfinden. Wir können auf die Erfahrungen des sogenannten Helsinki-Prozesses zurückgreifen. Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) auf der Basis gegenseitiger Vertrauensbildung sind schon einmal erfolgreich praktiziert worden.

Frage 5: Mit deiner Erfahrung von mehreren Jahrzehnten als Historiker: Was kannst du den Friedensaktivist*innen heute mit auf den Weg geben?

Seit meinem Studium hat mich die Problematik von Krieg und Frieden beschäftigt. Besonders interessieren mich die beiden folgenden Fragen: Wie können wir die Ursachen von Kriegen erforschen – als notwendige Voraussetzung für eine Politik der Kriegsverhütung? Mit welchen Behauptungen haben die jeweils Regierenden die wahren Motive für ihre Kriegspolitik propagandistisch zu verschleiern versucht?

Nach und nach verstand ich, welch große Rolle in der Geschichte metaphysische Kriegserklärungen bei der Vertuschung banaler Realitäten spielten. Mir wurde klar: Krieg ist kein Naturereignis, er ist nicht „der Vater aller Dinge“, er ist nicht „gottgewollt“ und auch kein Gottesgericht. Hinter solchem Blendwerk wurden die realen Kriegsursachen im Nebel des Unfassbaren zum Verschwinden gebracht. Das Ziel war, Fatalismus zu produzieren.

Gegen Ende meines Studiums wurde der Sozialdemokrat Gustav W. Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt. Seine erste Rede vor dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat in Bonn am 1. Juli 1969 ließ mich aufhorchen. Er sagte dort: „Ich sehe als erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.“ Etwas später, bei der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK), wandte er sich speziell an die Historikerinnen und Historiker: „Unendlicher Fleiß ist seit erdenklichen Zeiten von Geschichtsschreibern darauf verwandt worden, den Verlauf von Schlachten und Kriegen darzustellen. Auch den vordergründigen Ursachen von Kriegen wurde nachgespürt. Aber nur wenig Kraft, Energie und Mühe wurden in aller Regel darauf verwandt, sich darüber Gedanken zu machen, wie man sie hätte vermeiden können.“

Mit dem Projekt „Ernstfall Frieden“ waren für mich die Weichen für mein weiteres Berufsleben gestellt. Zur zentralen Frage wurde die nach einer Politik der Kriegsverhinderung, die sich aus einer Analyse der längerfristig wirkenden Kriegsursachen ergeben konnte. Als leichtfertig und wenig zielführend empfand ich manche Begriffe in den Debatten der Friedensforscher, etwa die Bezeichnung von Nicht-Krieg als „negativer Frieden“. Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass Frieden mehr sei als die Abwesenheit von Krieg. Aber das kostete einen Preis: Ungewollt wurde die zentrale politische Aufgabe der Kriegsverhinderung mit dem Begriff „negativ“ in Verbindung gebracht. Willy Brandt war da viel klarer, wenn er formulierte: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“

Ohne Erforschung der tieferen Ursachen kommt man auch nicht an die Wurzeln des Ukrainekrieges heran. Sie werden bis heute durch Kriegspropaganda und Freund-Feind-Denken im Dunkeln gelassen. So wird es kaum gelingen, tragfähige und belastbare Wege aus dem Krieg zu finden.

Bei meiner Arbeit als Historiker und Friedensforscher war mir die Erkenntnis hilfreich, dass sich in der jüngeren Geschichte Deutschlands jeweils zwei Strömungen gegenüberstanden, eine militaristische und eine pazifistische. Das sind verallgemeinernde Sammelbegriffe für Kriegsbejahung und Militarismus einerseits und für Diplomatie, Verständigungspolitik und Frieden andererseits. Diese beiden Strömungen gibt es bis heute. Der zivilisatorische Fortschritt in Sachen Frieden, den sich die deutsche Gesellschaft seit 1945 erarbeitet hat, lässt sich – so bleibt zu hoffen – nur vorübergehend zurückdrehen. Wir haben es in der Hand, die richtige Seite zu stärken und sie mit unserem Sachverstand und Engagement zu unterstützen und voranzubringen.

Erschienen in der ZivilCourage Ausgabe 2/2025.

Die Fragen stellte Yannick Kiesel.

Kategorie: Zivilcourage

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