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Zivilcourage

03.11.2025

Friedensprofile: Semih Sapmaz – WRI

  1. Bitte stellen Sie sich kurz vor.

Ich heiße Semih Sapmaz und ich koordiniere das Programm „Right to Refuse to Kill” (Recht auf Verweigerung der Tötung) bei War Resisters’ International. Zu meiner Arbeit gehört es, Kriegsdienstverweiger*innen aus Gewissensgründen weltweit zu unterstützen und mit Friedensaktivisten aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammenzuarbeiten. Ich schätze mich sehr glücklich, im Rahmen meiner Arbeit so viele inspirierende Aktivisten kennenzulernen – Menschen, die sich für eine Welt ohne Krieg einsetzen und an die Kraft des gewaltfreien Widerstands glauben.

  1. Was ist War Resisters‘ International und wofür steht die Organisation?

War Resisters‘ International (WRI) ist in erster Linie ein globales Netzwerk von Antimilitarist*innen und Pazifist*innen mit über 90 Mitgliedsgruppen in 40 Ländern. Unser Netzwerk wurde 1921 von Kriegsdienstverweiger*innen gegründet, die sich geweigert hatten, im Ersten Weltkrieg zu kämpfen, und ist seitdem stetig gewachsen. In der Gründungserklärung der WRI heißt es: „Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und mich für die Beseitigung aller Ursachen des Krieges einzusetzen.“

Die WRI steht für eine globale Gemeinschaft von Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen, die sich diesem Grundsatz verpflichtet haben und gemeinsam gegen Militarismus und für gewaltfreien Widerstand eintreten.

  1. Was sind die wichtigsten aktuellen Projekte oder Kampagnen der WRI?

Wie bereits erwähnt, ist die WRI ein Netzwerk von Pazifist*innen und Antimilitarist*innen, deren Mitglieder sich für eine Vielzahl von Friedens- und Gerechtigkeitsfragen einsetzen. Dazu gehören unter anderem: Unterstützung von Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen; Kampagnen gegen den Waffenhandel; Kampagnen für Friedenserziehung und gegen den Einfluss des Militärs in Schulen; Kampagnen gegen die Rekrutierung für das Militär; Kampagnen für Umweltgerechtigkeit – mit Schwerpunkt auf der Rolle von Kriegshandlungen in der heutigen Klimakrise; und die Förderung einer Kultur der Gewaltfreiheit im weiteren Sinne.

Vom WRI-Büro aus konzentrieren wir uns in erster Linie auf die Unterstützung der Basisarbeit unserer Mitglieder weltweit. Dazu organisieren wir internationale Solidaritätskampagnen, fördern den Austausch untereinander und unterstützen ihre Arbeit durch Publikationen und Veranstaltungen.

Zu unseren aktuellen Höhepunkten gehören:

  • Das Programm „The Right to Refuse to Kill” (Das Recht, sich zu weigern zu töten), das Kriegsdienstverweiger*innen aus Gewissensgründen international unterstützt und eng mit CO-Gruppen weltweit zusammenarbeitet.
  • Das Projekt „Militarismus und Klima”, das Strategien und Verbindungen zwischen Klimagerechtigkeit und antimilitaristischen Bewegungen aufbaut. Ein aktuelles Ergebnis ist unsere Kurzinformation „Militarismus und Klimakrise”, die kostenlos auf unserer Website verfügbar ist.
  • Das Antimilitarist Campaigning Lab (ACL) ist eine Reihe von Online-Workshops für junge Aktivist*innen, die Strategien für antimilitaristische Kampagnen erforschen – vom Waffenhandel und der Militarisierung der Grenzen bis hin zu Kriegsdienstverweigerung und Klimagerechtigkeit. Mit dem ACL wollen wir das generationsübergreifende Lernen fördern und das Engagement junger Menschen in unserem Netzwerk stärken.
  • Das Nonviolence Programme fördert Gewaltfreiheit durch Veranstaltungen und Publikationen. Vor kurzem haben wir eine überarbeitete Ausgabe des Handbook for Nonviolent Campaigns veröffentlicht, das eine umfangreiche Sammlung von Methoden und Taktiken zum Aufbau wirksamer gewaltfreier Bewegungen enthält. Ich empfehle allen, sich das Handbuch auf der WRI-Website anzusehen.
  1. Wie arbeitet ihr international zusammen – und mit welchen Partnern?

Unsere Arbeit im WRI-Büro basiert auf enger Kommunikation und Zusammenarbeit mit unseren Mitgliedsorganisationen. Für uns ist es wichtig, dass unsere Bemühungen die Friedensarbeit, die sie vor Ort leisten, stärken und unterstützen.

Diese Zusammenarbeit findet auf zwei Ebenen statt: mit Basisaktivist*innen und -gruppen sowie mit internationalen Organisationen. Wenn beispielsweise ein Kriegsdienstverweiger*innen inhaftiert wird, koordinieren wir uns eng mit lokalen Gruppen, um internationale Solidarität zu organisieren. Dazu kann gehören, die Nachricht zu verbreiten, Unterstützer zu ermutigen, Protestbriefe an die Behörden zu schicken, in denen die Freilassung der Kriegsdienstverweiger*innen gefordert wird, und Unterstützungsbotschaften an den inhaftierten Kriegsdienstverweigerer weiterzuleiten. All dies ist nur durch eine enge Zusammenarbeit mit lokalen Partnern möglich, die den Kontext am besten kennen.

Gleichzeitig arbeiten wir mit internationalen Organisationen wie dem Quaker United Nations Office (QUNO), Connection e.V., der International Fellowship of Reconciliation (IFOR) und anderen zusammen. Gemeinsam suchen wir nach Möglichkeiten, uns bei den Vereinten Nationen oder über regionale Mechanismen wie die EU oder ASEAN für die Belange unserer Mitglieder einzusetzen, um den Druck auf die Regierungen zu erhöhen.

Kurz gesagt: Wir arbeiten eng mit lokalen Gruppen zusammen, um ihre Bedürfnisse zu verstehen und effektiv darauf zu reagieren – oft in Partnerschaft mit anderen internationalen Verbündeten.

  1. Wie unterstützt die WRI Menschen, die den Militärdienst verweigern oder desertieren?

Wir unterstützen Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen durch eine Reihe von Aktivitäten, die auf Solidarität, Sichtbarkeit und Advocacy abzielen.

Eines unserer wichtigsten Instrumente ist das CO-Alert-System, das dringende Advocacy-Alarme ausgibt, wenn ein Kriegsdienstverweiger*innen strafrechtlich verfolgt oder inhaftiert wird, und so internationalen Druck auf die Behörden mobilisiert. Außerdem verbreiten wir weltweit Informationen, um das Bewusstsein und die Sichtbarkeit von Kriegsdienstverweiger*innen, insbesondere von gefährdeten Personen, zu erhöhen.

Wir unterstützen Basisgruppen von Kriegsdienstverweiger*innen mit Publikationen, Berichten und praktischen Leitfäden und bieten Möglichkeiten zum gegenseitigen Lernen und zur gegenseitigen Unterstützung, indem wir Kriegsdienstverweigererorganisationen online und persönlich zusammenbringen, um Erfahrungen auszutauschen und grenzüberschreitende Solidarität aufzubauen.

Entscheidend ist, dass wir lokale Gruppen von Kriegsdienstverweiger*innen mit internationalen Organisationen und Institutionen in Kontakt bringen, um ihnen eine Stimme zu geben und die Wirkung ihrer Lobbyarbeit zu verstärken. Auf einer breiteren Ebene engagieren wir uns in der politischen Lobbyarbeit bei den Vereinten Nationen und regionalen Gremien wie der EU und dem Europarat, um sicherzustellen, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung weltweit anerkannt und geschützt wird.

Durch diesen mehrstufigen Ansatz stärkt WRI die internationale Bewegung der Kriegsdienstverweiger*innen und unterstützt diejenigen, die sich weigern, sich an Kriegen zu beteiligen.

  1. Wie wird die Arbeit von WRI finanziert?

Unsere Arbeit wird durch Spenden und verschiedene Treuhandfonds finanziert. Einzelspenden und die finanzielle Unterstützung unserer Mitglieder sind für die Aufrechterhaltung unserer Arbeit von entscheidender Bedeutung. Zusätzlich zu dieser unverzichtbaren Basisunterstützung beantragen wir Zuschüsse aus verschiedenen Treuhandfonds, die hauptsächlich im Globalen Norden angesiedelt sind. Eine wichtige Finanzierungsquelle ist der Joseph Roundtree Charitable Trust (mit Sitz im Vereinigten Königreich), dessen Unterstützung maßgeblich dazu beigetragen hat, dass wir uns für Kriegsdienstverweiger*innen einsetzen und internationale Solidaritätsbemühungen koordinieren können.

  1. Welche Person oder welches Ereignis hat Sie besonders dazu bewegt, diese Arbeit zu tun?

Ich komme ursprünglich aus der Türkei, wo ich in einer Gesellschaft aufgewachsen bin, die das Militär als eine der vertrauenswürdigsten Institutionen betrachtet. Der Wehrdienst ist dort immer noch Pflicht, und das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nicht anerkannt. Wie viele Kinder in der Türkei wuchs ich mit Heldengeschichten über das „glorreiche“ türkische Militär auf und mir wurde gesagt, dass ich eines Tages stolz als Wehrpflichtiger dienen würde. Das wurde als heilige Pflicht dargestellt – als Zeichen von Loyalität, Stolz und guter Staatsbürgerschaft.

Aber in Wahrheit wollte ich nie zum Militär. Als ich älter wurde, begann ich, tiefer nachzudenken – und erfuhr von Alternativen. Damals stieß ich zum ersten Mal auf den Begriff „Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen”: Menschen, die sich aus ethischen Gründen offen weigern, Militärdienst zu leisten.

Die Begegnung mit einigen dieser Verweigerer – Menschen wie Osman Murat Ülke, Mehmet Tarhan und anderen – hat mich tief geprägt. Ihre Geschichten von gewaltfreiem Widerstand und ihrem Mut angesichts der Unterdrückung haben mich zutiefst inspiriert. Durch diese Begegnungen und jahrelanges Hinterfragen habe ich meinen Platz in der antimilitaristischen Bewegung gefunden.

  1. Wie reagiert die WRI auf den aktuellen Trend zur Militarisierung – zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine oder den steigenden Militärausgaben?

Wir reagieren auf den aktuellen Trend zur Militarisierung auf vielfältige Weise – durch Solidarität mit Kriegsdienstverweigerern, Aufklärungskampagnen und indem wir das Narrativ hinterfragen, dass mehr Waffen mehr Sicherheit bedeuten.

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine arbeiten wir beispielsweise eng mit Partnern wie Connection e.V., EBCO und anderen zusammen, um Kriegsdienstverweiger*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine zu unterstützen. Gemeinsam setzen wir uns mit der Kampagne #ObjectWar für ihren Schutz in Europa und darüber hinaus ein. Wir verstärken auch die Stimmen israelischer Kriegsdienstverweigerer, die sich weigern, im israelischen Militär zu dienen, und sich gegen die Besatzung und den Krieg in Gaza stellen.

In Bezug auf die Erhöhung der Militärausgaben konzentrieren wir uns darauf, das Bewusstsein für deren verheerende soziale und ökologische Kosten zu schärfen. Wir zeigen auf, wie steigende Militärbudgets Ressourcen von dringenden Bedürfnissen wie Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit abziehen. Kriegsprofiteure, Regierungen und Militärs treiben diese Eskalation voran – aber wir wehren uns mit der Botschaft, dass Militarismus die Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, nicht lösen kann.

Mit unseren Publikationen und Veranstaltungen wollen wir Klima- und Antimilitarismusbewegungen miteinander vernetzen und eine öffentliche Debatte stärken, die Menschen und den Planeten vor Krieg und Waffen stellt.

  1. Was sind derzeit die größten Herausforderungen für antimilitaristische Bewegungen weltweit?

Sie haben in der vorherigen Frage die steigenden Militärausgaben erwähnt – diese sind sowohl Ursache als auch Folge der zunehmenden Militarisierung der Gesellschaften. Je militarisierter eine Gesellschaft wird, desto mehr geben Regierungen für militärische Prioritäten aus; und je mehr sie ausgeben, desto mehr wird Militarismus normalisiert. In diesem Kreislauf werden Stimmen, die Frieden und Gerechtigkeit fordern, zunehmend an den Rand gedrängt oder zum Schweigen gebracht.

Wir leben in einer Zeit, in der die Institutionen des Völkerrechts aktiv untergraben werden, Ressourcen von dringenden sozialen und ökologischen Bedürfnissen abgezogen werden und Friedensforderungen angesichts eskalierender Gewalt oft als naiv oder unrealistisch abgetan werden. Es sind definitiv schwierige Zeiten für antimilitaristische und Friedensbewegungen weltweit.

Wir stehen bereits vor Herausforderungen in Bezug auf Kapazitäten und Ressourcen – und diese verschärfen sich noch. Aber trotz alledem gibt es weltweit viele Menschen und Gruppen, die sich für Antimilitarismus und Frieden einsetzen. Es ist zutiefst inspirierend, ihre Geschichten des Widerstands zu hören und zu teilen, die oft in sehr repressiven Kontexten spielen. Bei WRI arbeiten wir hart daran, diese Stimmen zu verstärken und stärkere Verbindungen zwischen ihnen aufzubauen – denn jede Geschichte des Widerstands hat das Potenzial, andere zu inspirieren.

Das Interview führte und übersetzte Yannick Kiesel.

Dieser Beitrag erschien in der ZivilCourage, Ausgabe 3/2025.

Kategorie: Zivilcourage

09.10.2025

Die Justiz rüstet mit für den Krieg

Bundesgerichtshof lässt KDVer in die Ukraine abschieben und stellt das KDV-Recht generell in Frage.

Immerhin: In der BRD darf niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das garantiert Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes. Gilt aber dieses Recht auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) auch für jemand aus dem Ausland, hier: der Ukraine, in der für Männer eine Kriegsdienstpflicht und keine Möglichkeit der KDV besteht? Ist damit ein KDVer vor der Auslieferung in die Ukraine geschützt? Geht es nach dem Bundesgerichtshof (BGH), dann heißt die Antwort: Nein! So jedenfalls hat es der 4. Strafsenat am 16. Januar 2025 beschlossen.

Im Leitsatz der Entscheidung haben die Richter*innen formuliert: „Verweigert der Verfolgte im Auslieferungsverfahren (…) aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe und ist nicht gewährleistet, dass er nach seiner Auslieferung nicht zum Kriegsdienst (…) herangezogen wird und im Fall seiner Verweigerung keine Bestrafung zu erwarten hat, begründet dies jedenfalls dann kein Auslieferungshindernis, wenn sein um Auslieferung ersuchendes Heimatland völkerrechtswidrig mit Waffengewalt angegriffen wird und ein Recht zur Kriegsdienstverweigerung deshalb nicht gewährleistet.“ (Nachzulesen ist die 31-seitige Begründung unter https://t1p.de/3s2xq.) Unjuristisch formuliert heißt das: In einem angegriffenen Staat gilt das Menschenrecht auf KDV nicht(s) mehr! Schlimm genug.

Aber schlimmer geht immer: Denn der BGH erachtet es „für – jedenfalls prinzipiell – nicht undenkbar, dass (…) auch die deutsche verfassungsrechtliche Ordnung es gestatten oder sogar erfordern könnte, den Schutz des Kriegsdienstverweigerungsrechts in außerordentlicher Lage gegenüber anderen hochrangigen Verfassungswerten zurücktreten zu lassen“. (Seite 22) Also nicht nur in der Ukraine, sondern auch hier soll Kriegsfähigkeit Vorrang vor Menschenrecht haben.

Warum aber hat sich überhaupt der BGH zur KDV geäußert? Ist er doch das höchste Gericht in Straf- und Zivilsachen und hat systematisch mit KDV und Dienstverpflichtungen als Teilbereich des öffentlichen Rechts nichts zu tun. Der betroffene KDVer soll 2018 in der Ukraine Straftaten begangen haben, weshalb 2023 gegen ihn ein Haftbefehl erlassen wurde, weshalb im Rahmen der internationalen Rechtshilfe nun um seine Auslieferung ersucht wurde. Nach dem Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen sind dafür die Oberlandesgerichte (OLG) zuständig. In dem Auslieferungsverfahren vor dem OLG Dresden trug der in Auslieferungshaft genommene Ukrainer vor, dass er KDVer sei und deswegen in seinem Heimatland verfolgt werden würde, was ein Auslieferungshindernis sei. Da das OLG beabsichtigte, von der bisherigen Rechtsprechung des BGH abzuweichen, legte es diesem die Sache zur Entscheidung vor. Auf die Möglichkeit, gegen die BGH-Entscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht vorzugehen, verzichtete der KDVer (leider). Denn vermutlich hätte das klargestellt, dass das KDV-Grundrecht gerade vor dem Zwang schützen soll, gegen das eigene Gewissen im Krieg einen anderen Menschen töten zu müssen. So würde es wohl auch das Bundesverwaltungsgericht für alle deutschen KDVer in den Anerkennungsverfahren sehen. Sicher ist das aber keineswegs. Auf dem Weg zur Kriegstüchtigkeit schreitet die Militarisierung von Staat, Gesellschaft und Justiz weiter voran. Und letztlich war die Rechtsprechung in Deutschland immer militärfreundlich.

Und es gibt Kontinuitäten: Der spätere Kanzler des BRD-Vorgängerstaats hatte bereits 1923 in „Mein Kampf“ propagiert: „Als Soldat kann man sterben, als Deserteur muss man sterben.“ In seiner Amtszeit sind die auf ihn vereidigten Richter dem gefolgt und haben ca. 30 000 Todesurteile gegen KDVer und Deserteure verhängt und davon über 20 000 vollstrecken lassen. Der frühere CDU-Politiker, Verfassungsrechtler, Grundgesetzkommentator und Kriegsminister (1988/89) Rupert Scholz hatte bereits vor Jahrzehnten die Ansicht vertreten, die durch das Grundgesetz abgeschaffte Todesstrafe könnte im Kriegsfall wieder eingeführt werden. Der „menschenrechtliche Lack“ ist im vom Militarismus geprägten deutschen Staatswesen dünn.

Stefan Philipp ist stellvertretender Vorsitzender des baden-württembergischen DFG-VK-Landesverbands.

Lesenswert die Kritik der BGH-Entscheidung der Uni-Professorin Kathrin Groh in https://t1p.de/rdbti.

Kategorie: Zivilcourage

02.10.2025

Über Pazifismus und Antimilitarismus

Über Pazifismus und Antimilitarismus zu schreiben, mag in Zeiten wie diesen, in denen ein deutscher Verteidigungsminister davon spricht, Deutschland müsse wieder „kriegstüchtig“ werden, manchen eigentümlich vorkommen. Der fürchterliche Krieg, den Russland in der Ukraine führt, hat auch in der Bundesrepublik zu gravierenden Verschiebungen im gesellschaftlichen Bewusstsein geführt. Der Ukrainekrieg hat Weltbilder und lange gehegte Sicherheiten zerstört. Die Realisierung eines friedlichen Zusammenlebens in Europa und der Welt auf der Grundlage von Kooperation, Dialog und Abrüstung scheint in weite Ferne gerückt zu sein – schon die Vorstellung wird von vielen inzwischen als naiv und weltfremd begriffen. Das Denken in den Kategorien militärischer Stärke erlebt eine Renaissance. Die unsägliche Diskussion über die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht wird immer lauter. Pazifismus und Antimilitarismus wirken aus der Mode gekommen. Aber waren sie überhaupt je in Mode?

Pazifist*innen und Antimilitarist*innen hatten gerade in Deutschland noch nie einen leichten Stand. Bertha von Suttner, Ludwig Quidde und Carl von Ossietzky, die hervorstechendsten pazifistischen Köpfe der Antikriegsbewegung vor dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik, waren trotz ihrer Friedensnobelpreise stets politische Außenseiter und wurden auf das Übelste angefeindet. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die beiden wohl exponiertesten Vertreter*innen des in der Arbeiterbewegung beheimateten Antimilitarismus, wurden 1919 von einem paramilitärischen Freikorps ermordet. Trotzdem oder gerade deswegen ist pazifistisches und antimilitaristisches Denken wichtig, ist es doch ein Stachel gegen all jene, die bereit sind, sich ebenso allzu selbstsicher wie leichtsinnig in einer Welt der Waffen und Kriege einzurichten.

Essenziell bei der Betrachtung von Antimilitarismus und Pazifismus ist es, die jeweiligen Grundgedanken und die zugrunde liegenden Motivationen zu verstehen. Beide Begriffe sind zwar eng miteinander verbunden, jedoch sind sie weder deckungsgleich noch stellen sie starre, geschlossene Denksysteme dar. Stattdessen fungieren sie als Oberbegriffe, die eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze und Einstellungen umfassen.

Der Antimilitarismus basiert vor allem auf einer kritischen Haltung gegenüber Militarismus, also militaristischen Tendenzen innerhalb von Gesellschaft und Politik. Er richtet sich gegen militärische Macht, Aufrüstung, Kriegsvorbereitungen und die damit verbundenen Ideologien. Ziel des Antimilitarismus ist es, die Gesellschaft von militaristischen Strukturen und Denkweisen zu befreien, um eine friedlichere und gewaltfreie Gesellschaft zu fördern. Dabei kann der Antimilitarismus unterschiedliche Formen annehmen: Manche Menschen lehnen das Militär grundsätzlich ab, andere kritisieren nur bestimmte Aspekte wie die Rüstungsindustrie oder die Militarisierung im öffentlichen Raum.

Der Pazifismus hingegen basiert auf einer grundsätzlichen Kritik am Krieg selbst. Wobei sich von Anfang an unter diesem Etikett verschiedene Anschauungen versammelten, deren Gemeinsamkeit ganz allgemein nur war und ist, sich für den Frieden einzusetzen sowie Kriegsgefahr reduzieren und Militarisierung bekämpfen zu wollen. Gemeinsam hatten und haben die verschiedenen pazifistischen Strömungen, der Logik des Krieges eine andere, eine friedliche, Logik entgegensetzen zu wollen. Aber was das konkret bedeutet, darüber waren und sind sie sich nicht unbedingt einig. Sicherlich haben Pazifist*innen ein kollektives Grundverständnis dafür, Schwerter zu Pflugscharen umschmieden zu wollen. Der Auffassung, unter allen Umständen die zweite Wange hinzuhalten, folgte und folgt jedoch stets nur ein Teil.

Historisch betrachtet, lässt sich der Pazifismus auf zwei Grundströmungen zurückführen. Auf der einen Seite steht der überwiegend religiös motivierte „abso­lute Pazifismus“, der ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Nordamerika, aber auch in Großbritannien, starke Verbreitung fand. Dieser Pazifismus entspricht dem, was bis heute oft fälschlich für die alleinige Form von Pazifismus gehalten wird: der Verpflichtung zur absoluten Gewaltfreiheit, unter welchen Bedingungen auch immer.  Ausgangsbasis waren die sogenannten Friedenskirchen, die als christlich-protes­tantische Abspaltungen teils schon im frühen Mittelalter, teils in und nach der Reformationszeit entstanden sind, wie zum Beispiel die Hutterer, die Mennoniten und vor allem die Quäker. Bei allen theologischen Unterschieden war all diesen Gemeinschaften eine biblisch abgeleitete prinzipielle Ableh­nung jeglichen Militärdienstes gemeinsam.

Auf der anderen Seite entwickelte sich ebenfalls im 19. Jahrhundert in Kontinentaleuropa ein „völkerrechtsorientierter Pazifismus“. Getragen von linksliberalen Teilen des Bürgertums, basierte der Völkerrechtspazifismus auf dem Gedanken der Aufklärung und dem Glauben an den histori­schen Fortschritt. Das Ziel war, Konflikte mittels internationaler Vereinbarungen sowie eines verbindlichen völkerrechtlichen Regelwerks zu zivilisieren und dadurch zu entschärfen. Die bürgerliche Friedensbewegung vertrat jedoch nicht das Prinzip absoluter Gewaltfreiheit. Sie lehnte weder den Verteidigungskrieg eines Landes ab noch stellte sie sich gegen die nationalen Befreiungskriege des 19. Jahrhunderts.

Auch Bertha von Suttner, die wohl bekannteste Repräsentantin der bürgerlichen Friedensbewegung während der Kaiserzeit, war keine Radikalpazifistin. „Die Waffen nieder!“ lautet zwar der Titel ihres berühmtesten Buches – und das verstand sie durchaus als kategorischen Imperativ. Aber die große Pazifistin schrieb auch: „Wo Verfolgte, Tyrannisierte, Verhungernde ihren Klageschrei erheben, dort eile man hin und interveniere, denn nicht innere Angelegenheit – Menschenangelegenheit ist’s.“ In diesem Sinne plädierte sie für ein internationales „bewaffnetes Schutzheer“, das „nur zur Bändigung von Mördern, Räubern und Tollen“ ausgeschickt werden solle.

Grundsätzlich lässt sich also zwischen einem absoluten und einem nichtabsoluten Pazifismus unterscheiden. Wobei christlich motivierte Pazifist*innen ihre Überzeugung aus dem Ideal der Widerstandslosigkeit gegen­über dem Bösen ableiten, wie es in der Bibel von Jesus in der Bergpredigt (im Matthäusevangelium) oder der Feldpredigt (im Lukasevangelium) gefordert wird. Bekannteste Persönlichkeit dieser Strömung ist der 1968 ermordete US-amerikanische Bürgerrechtler und Friedensno­belpreisträger Martin Luther King Jr. In der Bundesrepublik steht dafür heutzutage beispielsweise Margot Käßmann, die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Dem steht ein nichtabsoluter Pazifismus gegenüber, der auch als relativer Pazifismus bezeichnet werden kann. Anhänger*innen eines solchen Pazifismus können unter bestimmten Umständen die Zulässigkeit oder sogar Notwendigkeit eines Krieges oder einer Gewaltanwendung akzeptieren, aber sie unter anderen Umständen gleichwohl fundamental ablehnen. Ihr Pazifismus ist also nicht „kategorisch“, sondern konditional. Das heißt, es gibt für sie Voraus­setzungen, die eine Abweichung von der pazifistischen Norm sinnvoll, ja sogar zwingend erscheinen lassen können.

Herausragendes Beispiel eines konditionalen Pazifisten ist Albert Einstein. In der Weimarer Republik verstand sich der Physikno­belpreisträger noch als Radikalpazifist. Nach der Machtübernahme der Nazis unterschied Einstein zwischen einem „vernünftigen“ und einem „unvernünftigen“ Pazifismus. Er könne „es nicht fassen, warum die ganze zivilisierte Welt sich nicht zum gemeinsamen Kampf zusammengeschlossen hat, um dieser modernen Barbarei ein Ende zu bereiten“, beklagte Einstein in einem Interview im September 1933. „Sieht denn die Welt nicht, dass Hitler uns in einen Krieg hineinzerrt?“ Nein, sie sah es nicht, wollte es leider nicht sehen.

Zu den verschiedenen pazifistischen Strömungen trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Antimilitarismus, verkörpert durch die aufstrebenden sozialdemokratischen beziehungsweise sozialistischen Parteien in Europa, in Deutschland durch die SPD und ihre Vorläuferinnen. Die Sozialdemokratie verband zwar mit der bürgerlichen Friedensbewegung die Angst vor einem großen Krieg, aber ihre Antworten, wie der abgewendet werden könnte, fielen höchst unterschiedlich aus. So agitierte die SPD zwar entschlossen gegen Militarismus, forderte aber nicht minder entschieden eine Volksbewaffnung.

Dass sie das nicht als Widerspruch sah, lag daran, dass sie den Erfolg des Klassenkampfs der Arbeiter*innen gegen die bestehenden feudalen und bourgeoisen Machtverhältnisse für die entscheidende Voraussetzung zur Schaffung einer friedlichen Welt ansah. Der Internationale Sozialistenkongress 1893 in Zürich brachte das auf die knappe Formel „Der Sturz des Kapitalismus ist der Weltfriede“. Auch wenn ihre Praxis eine andere war, lehnte daher die SPD nicht grundsätzlich Gewalt als Mittel der Politik ab, sondern nur die herrschende Gewalt. Dazu passte, dass sie der individuellen Militärdienstverweigerung als Protestform, wie sie sowohl vom christlich motivierten Pazifismus als auch vom anarchistischen Antimilitarismus propagiert wurde, nichts abgewinnen konnte. Selbst Karl Liebknecht, Vertreter des linken Flügels in der SPD und ohne Zweifel einer der radi­kalsten Kriegsgegner in der Partei, polemisierte dagegen.

Dieser historische Hintergrund erklärt, warum sich in der Praxis Pazifismus und Antimilitarismus zwar oft überschneiden, doch die Begriffe für recht unterschiedliche Orientierungen stehen. Zu Recht hat der britische Politikwissenschaftler Geoffrey Ostergaard konstatiert, dass Pazifisten zwar sicherlich auch Antimilitaristen sind. „Allerdings sind nicht alle Antimilitaristen Pazifisten“, so der 1990 verstorbene Ostergaard, der sich selbst als anarchistischer Pazifist verstand. Das kann bei bestimmten Ausprägungen des Antimilitarismus zum Konflikt führen.

Ein Beispiel dafür ist die Ostermarschbewegung. Der erste Ostermarsch in der Bundesrepublik fand 1960 statt. Von da an wuchs er Jahr für Jahr, bis die Ostermärsche im April 1968 ihren Höhepunkt erreichten, als sich rund 300 000 Menschen an ihnen beteiligten. Doch vier Monate später, in der Nacht zum 21. August 1968, marschierten die Truppen aus fünf Ländern des Warschauer Paktes unter Führung der Sowjetunion in die ČSSR ein und schlugen gewaltsam den „Prager Frühling“ nieder. Das war ein Bruchpunkt.

Die Ostermärsche wurden damals zentral von der Kampagne für Demokratie und Abrüstung organisiert. Einen Tag nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei schrieben die pazifistischen Mitglieder des bundesweiten Trägerkreises einen offenen Brief.  Der Kreis um Andreas Buro, Arno Klönne und Klaus Vack stellte den in der Ostermarschbewegung aktiven Kommunist*innen, die sich als Antimilitarist*innen verstanden, eine einfache, aber zentrale Frage: ob sie bereit seien, kritisch zum Einmarsch in die ČSSR Stellung zu beziehen? Die Antwort auf diese Frage entscheide „jetzt über die Möglichkeiten weiterer Zusammenarbeit in der außerparlamentarischen Opposition“.

Der marxistische Philosoph Robert Steigerwald und andere führende Kommunist*innen, die kurz darauf an der Gründung der DKP beteiligt waren, beantworteten den Brief noch im selben Monat: Sie kämen „zu einer grundsätzlichen anderen Beurteilung des Eingreifens der fünf sozialistischen Länder“. Es sei ihre „Überzeugung, dass das militärische Eingreifen zur Sicherung der sozialistischen Ordnung in der ČSSR und damit des Status quo in Europa vor der akuten Gefahr eines gegenrevolutionären Auflösungsprozesses unvermeidlich war“, schrieben sie. Damit war die gemeinsame Grundlage zerstört, die Kampagne für Demokratie und Abrüstung zerfiel. Ein Jahrzehnt lang gab es keine Ostermärsche mehr in der Bundesrepublik.

Erst nach dem NATO-Doppelbeschluss im Dezember 1979 lebte die Ostermarschbewegung wieder auf. Die gemeinsame Angst vor der atomaren Bedrohung ließ Trennlinien in den Hintergrund treten, der alte Streit schien vergessen. Aber der Grundkonflikt blieb ungelöst. Das gilt bis heute und ist einer der Gründe dafür, dass auch mehr als drei Jahre nach dem Angriff Russlands die Friedensbewegung keinen kollektiven ausstrahlungsfähigen Umgang mit dem Ukrainekrieg gefunden hat. Schließlich ist es höchst fragwürdig, wenn ein nicht unerheblicher Teil der verbliebenen Friedensaktivist*innen immer noch an der Lebenslüge festhält, allein die USA und die NATO seien eine Gefahr für den Weltfrieden. Wer einst – zu Recht – „Amis raus aus Vietnam“ oder „Amis raus aus Irak“ gerufen hat, aber heute nicht bereit ist, ebenso entschieden „Russland raus aus der Ukraine“ zu fordern, hat ein schwerwiegendes Glaubwürdigkeitsproblem.

In einer Ostermarschrede Anfang der 1980er-Jahre hat der pazifistische Theologe Helmut Gollwitzer die Menschen in Europa als „Pulverfassbewohner“ und die Friedensbewegung als „Überlebensbewegung hart vor dem Abgrund“ bezeichnet. Seine Worte erscheinen heute aktueller denn je. Wäre doch bloß die Friedensbewegung in einem besseren Zustand.

Zur Person: Pascal Beucker ist Redakteur im Parlamentsbüro der tageszeitung (taz) in Berlin. Laut schriftlichem Bescheid des Ausschusses für Kriegsdienstverweigerung beim Kreiswehrersatzamt Düsseldorf vom 13. Mai 1991 ist er „berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern“. Sein Buch „Pazifismus – ein Irrweg?“ ist im vergangenen Jahr im Kohlhammer Verlag erschienen.

Kategorie: Zivilcourage

02.09.2025

Streitgespräch zwischen Tobias Linder (Die Grünen) und Nils Holger-Schomann (DFG-VK)

Tobias Lindner (Jg.1982) ist Politiker von Bündnis 90/Die Grünen; bis 2025 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, anschließend Staatsminister im Auswärtigen Amt. 2019 nahm er seine frühere Kriegsdienstverweigerungzurück. Nils-Holger Schomann, ehemaliger Fernsehjournalist und jetzt freier Filmemacher. Er ist aktiv im Landesverband Hamburg und Schleswig-Holstein.

Herr Lindner, Sie haben den Kriegsdienst verweigert, allerdings habe ich gelesen, dass sie bereits 2019 ihre Verweigerung zurückgezogen haben, was waren ihre Motive?

Tobias Lindner:
Ich bin im Jahr 2000, wie alle meines Jahrgangs, noch gemustert worden. Wenn ich mich richtig daran erinnere, sind vielleicht drei aus meinem Abiturjahrgang zur Bundeswehr gegangen, der Rest war entweder nicht tauglich oder hat den Wehrdienst verweigert.

Damals war für mich maßgeblich, dass die Realität der Bundeswehr hauptsächlich von Auslandseinsätzen geprägt war. Das war eine Zeit, in der wir auch gedacht haben, dass wir die Streitkräfte zu Zwecken von Abschreckung und Verteidigung, also zum reinen Kernauftrag, immer weniger benötigen. Ich hatte große Zweifel, was ich als Wehrpflichtiger, der elf Monate ausgebildet wird, denn überhaupt beitragen kann?

Dann bin ich 2011 in den Bundestag gekommen. Ich wollte in den Haushaltsausschuss, aber die Bedingung war, dass ich mich um den Verteidigungsetat kümmere. Es macht dann eigentlich nur Sinn, wenn man auch Mitglied im Verteidigungsausschuss ist, um informiert über Verteidigungsausgaben und Beschaffungsvorhaben zu diskutieren. Und so kam die Verbindung zur Bundeswehr zustande.

Die Gründe für mich 2019 diese sieben Tage eine Uniform anzuziehen, waren tatsächlich so, dass sich mein Eindruck, durch den Kontakt mit der Truppe, über die Bundeswehr, gewandelt hat. Und es ist leider so, dass spätestens seit Russlands Einmarsch auf der Krim das Thema „Müssen wir uns verteidigen können?“ einfach wieder einen höheren Stellenwert hat. Zudem war es mir wichtig, nicht nur immer über etwas zu reden und über etwas Politik zu machen, sondern eine Organisation auch mal von innen zu erleben. Zu beiden Entscheidungen stehe ich. Aber es ist auch nicht so, dass ich deshalb keine kritischen Fragen zu Verteidigungspolitik mehr hätte, sondern ich habe, wie viele, mir die Bundeswehr praktisch eine Woche von innen angeschaut und um diese Eindrücke bin ich sehr dankbar.

Nils, Du hattest schon im Vorgespräch gesagt, dass du seit ca. fünf Jahren wieder richtig pazifistisch aktiv bist, also sozusagen genau den anderen Schritt gemacht hast. Auch trotz der ganzen Entwicklungen in den letzten Jahren bist du nun erst recht pazifistisch friedensbewegt aktiv, warum hast du deine Kriegsdienstverweigerung gerade nicht zurückgezogen?

Nils:
Damals, unter dem Eindruck des Vietnamkrieges, habe ich den Kriegsdienst verweigert. Da prangte auf dem Titelblatt des Spiegel dann Napalm, verbrannte Kinder, und uns wurde in der Schule erzählt, dass dort die Freiheit des Westens verteidigt wird. Das fand ich und andere, eigentlich meine ganze Generation, zutiefst empörend. All das auf Kosten der Zivilbevölkerung. Natürlich war der Zeitgeist ein anderer. Aus meinem Jahrgang haben fast alle verweigert oder waren nicht tauglich. Zur Bundeswehr ist niemand gegangen. Dann war 1975 der Vietnamkrieg zu Ende, ich war noch nicht anerkannt als Kriegsdienstverweigerer. Alles war aber bereits eingereicht. Ich bin dann auch tatsächlich nach Westberlin gegangen, also Republikflüchtling West, um in Westberlin nicht eingezogen zu werden. Schlussendlich wurde ich dann anerkannt vom Verwaltungsgericht in Lüneburg. Und dort gab es dann diese ganzen abstrusen Fragen, die heute weiterhin rumgeistern. Sowas wie „Was machen sie, wenn der Russe mit der Kalaschnikow im Park ihre Frau vergewaltigen will. Sie haben auch eine Waffe dabei, schießen sie dann?“ Solch blöden Fragen wurden wirklich in den Verhandlungen gestellt. Das sind Klischees, aber das gab es massenhaft. Und dann habe ich gesagt: Nein, ich habe keine Waffe, also komme ich auch nicht in die Verlegenheit, zu schießen. Dazu stehe ich eigentlich bis heute, das ist sozusagen meine DNA. Auch, dass ich sage, wenn ich keine Waffe habe, kann ich auch nicht schießen. Ich würde immer nach anderen Wegen der Verteidigung suchen.

Herr Lindner, glauben Sie, das ist auch eher eine Generationenfrage?

Tobias Lindner:
Ich glaube nicht, dass es eine Generationenfrage ist. Ich will erstmal wertschätzend sagen, ich habe vor allen Respekt, die sagen „Ich kann mir nicht vorstellen, mich mit einer Waffe zu wehren“. Diese Haltung verdient erstmal Respekt und Anerkennung. Man kann allerdings nicht erwarten, dass eine Gesellschaft, die eine oder die andere Haltung komplett, uniform und homogen übernimmt. Wenn wir uns in meine Welt des Jahres 2000-2001 versetzen – Balkankriege, Kosovo, Afghanistan, Irak. Natürlich gab es Diskussionen darüber. Zum einen über die Frage, welchen Sinn hat denn militärisches Eingreifen? Und Nils, ihr Argument, dem kann ich ja durchaus beipflichten. Auch ich habe die letzten dreieinhalb Jahre als Staatsminister im Auswärtigen Amt alles getan und alles versucht, Konflikte gewaltfrei zu lösen.

Ich habe für mich erkennen müssen, dass das an manchen Stellen – aus welchen Gründen auch immer – nicht möglich ist. Aber natürlich muss unser Anspruch immer sein, erst einmal zu versuchen, einen Konflikt gewaltfrei zu lösen. Für mich ist der Sinn und Zweck von Militär nicht die Provokation, sondern die Prävention von Gewalt. Das mag nicht in allen Szenarien gehen, aber ich würde erstmal nicht pauschal denen, die sagen, wir brauchen Streitkräfte und genügend Ausrüstung, automatisch eine Kriegslust unterstellen. Wir müssen eher eine Diskussion darüber führen, welche Mittel wir realistischerweise in diesen Tagen zur Verfügung haben.

Nils, wie würdest du darauf reagieren? Das geht ja auch schon in die Richtung, die uns als DFG-VK oft vorgeworfen wird: Was tun gegen Putin? Ein Aggressor, der mit Gewalt vorgeht und ihr wollt da nur zusehen?

Nils:
Die grundsätzliche Frage ist ja, was können wir hier überhaupt tun? Selbst Herr Lindner als ehemaliger Staatsminister sagt, er hatte nicht immer die Möglichkeiten, die er sich gewünscht hätte, auf die Situationen Einfluss zu nehmen. Was können wir jetzt als deutsche Gesellschaft bzw. als Einzelne tun, um solche Kriege zu verhindern oder zu beenden? Ich bin skeptisch, dass wir überhaupt Einfluss haben können. Ich glaube, es kommt auf die Menschen in der Ukraine und in Russland an. Dieser Krieg als Beispiel hat natürlich für viel moralische Empörung gesorgt. Auch als Frage an Sie, Herr Lindner. Dass es hieß, nun sollen wieder die westlichen Werte in der Ukraine verteidigt werden. Das sagen die Grünen regelmäßig. Es geht um Demokratie Kontra Diktatur in Russland. So scheint es zumindest und dann stellen sich natürlich Fragen, z.B. warum die Menschen in der Ukraine nicht das Recht haben, den Kriegsdienst zu verweigern. Dieses Recht existiert gerade schlicht nicht. Mehrere unserer Freunde in der Ukraine sind im Gefängnis gelandet, also einschließlich christlicher Menschen, die nicht die Möglichkeiten hatten, sich dem Militär zu entziehen. Sie sind einfach nicht hingegangen und anschließend im Gefängnis gelandet. Da bin ich dann wieder beim Vietnamkrieg, wo für mich dann die rote Linie ist. Selenskyj hat gesagt, er möchte Reformen voranbringen, weil er ja in die EU möchte. Aber es ist doch ein Menschenrecht zu verweigern, ein Grundrecht. Ich kann doch nicht einfach ein Grundrecht außer Kraft setzen in der Ukraine. Und dann stellen sich unsere Politiker hin und sagen, wir verteidigen dort die westlichen Werte. Damit auch die konkrete Frage an Sie, Herr Lindner, was haben Sie denn für die Kriegsdienstverweiger*innen in der Ukraine getan?

Tobias Lindner:
Ich würde gern mal mit diesem Vorwurf der Verteidigung westlicher Werte aufhören. Mich nervt diese ganze Erzählung nämlich. Wir haben ein Völkerrecht und wir haben eine Charta der Vereinten Nationen. Das sind mitnichten westliche Werte. Wenn wir uns anschauen, wer nach dem Krieg, wohlgemerkt ohne die Beteiligung beider deutscher Staaten, die damals nicht Mitglied der UN waren, die Charta der Vereinten Nationen geschrieben hat: das sind Autorinnen und Autoren aus Ländern, die wir heute despektierlich dem Globalen Süden zuordnen würden. Ich versuche diesen Begriff, wann immer es geht, zu vermeiden. Aber ich würde mich erst mal dagegen wehren, Errungenschaften wie Souveränität, territoriale Integrität, Gewaltverbot im Völkerrecht, als westliche Werte zu klassifizieren. Das sind universelle Werte. Sie sind Teil des universellen Völkerrechts, nicht irgendein westliches Konstrukt. Ich habe ein Riesenproblem mit dieser ganzen Erzählung, dass die UN und das System, mit dem wir eigentlich versuchen, Krieg und Gewalt zu vermeiden, dass das ein westliches Konstrukt sei. Zur Frage der Kriegsdienstverweigerung pflichte ich ihnen vollkommen bei, dass in Deutschland das Recht, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, ein Grundrecht ist. Persönlich bin davon überzeugt, dass diese Grundrechte universelle Gültigkeit haben. Wenn es jetzt um die Frage von Auslieferungen männlicher ukrainischer Staatsangehöriger in Deutschland geht, kann ich nur darauf verweisen, dass es in unserem Land Gewaltenteilung gibt, und dass über solche Fragen in Deutschland Gerichte entscheiden. Mir wäre es neu, dass wir Kriegsdienstverweigerer ausgeliefert hätten.

Wenn wir uns die Ukraine anschauen, sind wir in einem Land, in dem Krieg geführt wird. Die Diskussionen vor Ort sind natürlich ganz andere. Ich tue mir auch schwer damit, mir von außen etwas anzumaßen. Ich sehe aber auch, dass die Ukraine mitnichten die gesamte männliche Bevölkerung mobilisiert hat. Ich war mehrfach dort, habe mit Menschen gesprochen und ich glaube, da haben wir vielleicht auch eine Gemeinsamkeit. Die Frage, ob die Ukraine gegen diese russische Invasion bestehen kann, ist auch eine militärische, aber eben keine rein militärische. Es hat viel damit zu tun, wie widerstandsfähig eine Gesellschaft von innen heraus ist, zum Beispiel, ob noch eine Volkswirtschaft funktioniert, ob das öffentliche Gemeinwesen funktioniert. Deshalb gibt es ja in der Ukraine Diskussionen darüber, wie umfangreich mobilisiert werden soll. Also nochmal: Das Recht, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, ist in Deutschland ein Grundrecht und dem werde ich auch nicht widersprechen.

Nils:
Aber nochmal, ich hatte ja gefragt, was hat das Auswärtige Amt in ihrer Zeit unternommen, um vielleicht Leute auch rauszuholen, die bedroht waren, ins Gefängnis zu kommen?

Tobias Lindner:
Tut mir ganz ehrlich leid. Ich hatte in meiner Praxis in den dreieinhalb Jahren andere Probleme:  Kriegsverbrechen verfolgen, am Wiederaufbau helfen. Ich war in zerstörten Dörfern, um zu sehen, wie man die Zivilbevölkerung schützt. Das sind die Dinge, die mich umgetrieben haben.

Nils:
Also das würden Sie schon auch kritisieren, dass es das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht gibt in der Ukraine?

Tobias Lindner:
Ich würde ihnen widersprechen, dass es das Recht auf Kriegsdienstverweigerung dort nicht gibt. Natürlich gibt es Möglichkeiten, den Kriegsdienst zu verweigern, aber der Rechtsrahmen ist nun mal ein anderer als bei uns. Und jetzt vergegenwärtigen Sie sich das mal, wenn wir den Verteidigungsfall hätten und ich hoffe natürlich, dass dieser nie eintritt, könnten wir auch Menschen wie sie heranziehen zu Diensten, die nicht mit der Waffe verbunden sind.

Noch mal da einhakend: auch Menschen aus Russland, die eigentlich ja kämpfen müssen oder auch teilweise desertieren, haben ja in der EU aktuell nicht den einfachsten Stand. Hatten sie sich damit auch beschäftigt?

Tobias Lindner:
Ich möchte nochmal zwei Dinge ganz deutlich sagen: Also zum einen haben wir uns in der Ukraine sehr breit mit der Bevölkerung unterhalten, das ist mir ganz wichtig. Ich habe mich zum Beispiel auch mehrfach mit dem Oppositionsführer, mit Herrn Poroschenko getroffen. Uns war es immer wichtig, dass wir bei der Ukraine-Politik die ganze Gesellschaft sehen. Bei Russland haben wir ebenfalls den Kontakt mit verbliebenen Zivilgesellschaft gesucht. Wir haben nach wie vor eine Botschaft in Moskau und damit einen Gesprächskanal. Und genauso habe ich mich viel mit der russischen Opposition, die leider im Exil leben muss, unterhalten. Und es tut mir leid, wenn ich es ihnen so platt beantworten muss. Aber die Frage, ob Desertation einen Asylgrund manifestiert, ist eine ausländerrechtliche Frage, für die wir gar nicht zuständig waren. Ich werde mich jetzt auch nicht auf das Glatteis begeben, ich bin kein Jurist. Wir haben uns das natürlich angesehen. Ich kann Ihnen sagen, in der Praxis war für uns im Auswärtigen Amt, in unserem Zuständigkeitsbereich, unsere Aufgabe, mit der russischen Exil-Opposition zu reden, mit russischen Gruppen zu reden, die sich gegen Militarismus wenden.

Dann kommen wir jetzt zur hiesigen Wehrpflicht-Diskussion in Deutschland. Allerdings auch mit dem Blick auf die gesamte sicherheitspolitische Situation natürlich. Herr Lindner, Sie haben ja 2019 die Kriegsdienstverweigerung zurückgezogen, würden sie das nach 2022 immer noch machen, als es dann quasi noch ernster wurde? Tatsächlich ist es aktuell ja so, dass z.B. Reservist*innen, also auch Menschen, die bereits bei der Bundeswehr waren, jetzt wieder mehr verweigern. Was sagen Sie dazu?

Tobias Lindner:
Würde ich die Entscheidung von 2019 heute noch mal so treffen? Ja, weil die Gründe, die ich damals hatte, heute noch gelten. Zu den Fragen der Verweigerung: Wir sehen natürlich, dass es Menschen gibt, die einmal Wehrdienst geleistet haben und nun im Nachhinein den Kriegsdienst verweigern. Das ist ihr gutes Recht. Wir sehen auch Zahlen, dass Menschen, die einmal verweigert haben, die Verweigerung zurücknehmen. Die letzte Zahl, die ich mal hatte, waren ca. 400 Personen pro Jahr, die aktuelle Tendenz kenne ich nicht. Ich finde, wir müssen in unserer Gesellschaft schon Menschen die Möglichkeit lassen, dass sie im Laufe ihres Lebens zu anderen Einsichten kommen, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung.

Nils:
Also ich würde meine Verweigerung nicht zurücknehmen. Das ist ganz eindeutig und da hätte ich auch an Sie die Frage, Herr Lindner: Wie stellen Sie sich heute Verteidigung vor? Wir sehen doch jetzt die modernen Kriege und was wir gerade in der Ukraine sehen, ist ein festgefahrener Stellungskrieg mit immensen Schäden. In den Städten, an der Zivilbevölkerung. Wir sehen es in Gaza, wir sehen es in der Ukraine. Auf dem Schlachtfeld bewegt sich nicht viel. Wo sich allerdings viel bewegt, auch Israel und Iran z.B., ist der Luftkrieg. Sie schütteln den Kopf.

Tobias Lindner:
Da teile ich ihre Lageeinschätzung nicht.

Nils:
Wie muss ich mir denn heute einen Krieg vorstellen? Also die Vorstellung, dass ich da jetzt als Reservist eingezogen werde und z.B. in diesem Korridor zwischen Belarus und Polen eingesetzt werde. Da gibt es ja einen Durchlass, bei dem immer gesagt wird, wenn sie kommen, dann marschieren wir da hin und verteidigen tapfer die EU. Also diese Vorstellung, die kann sich bei mir nicht einstellen, dass es solche Kriege hier in der Form noch geben wird. Ich glaube, es wird eher Kriege mit großen Schäden und großen Zerstörungen geben, siehe die Bilder aus der Ukraine. Der Luftkrieg war ja auch schon im Zweiten Weltkrieg fürchterlich. Und das sind die Ereignisse, die einen Krieg auch letztendlich entscheiden. Das sagt man ja auch von den Atombombenabwürfen in Japan. Dass der noch den letzten Ausschlag gegeben hat, bezweifle ich auch, aber das ist eine andere Diskussion. Ich würde gerne wissen, was sie für eine Vorstellung von Verteidigung haben? Ich habe da große Schwierigkeiten mir das vorzustellen. Ich sehe da eher Zerstörung vor meinem geistigen Auge.

Tobias Lindner:
Wir können jetzt in diesem Gespräch in zwei Richtungen abbiegen: Das eine wäre eine militärfachliche Diskussion. Was sehen wir leider täglich auf dem Schlachtfeld und was sind die Lehren, die wir daraus ziehen. Ich sage vielleicht noch drei, vier Sätze dazu, warum ich mit dem Kopf geschüttelt habe. Also erstmal würde ich mich dagegen wehren, die schreckliche Situation in Gaza mit der in der Ukraine zu vergleichen. Wir haben uns sehr intensiv das Kriegsbild in der Ukraine angesehen. Das ließ uns mit ein einigen Widersprüchen oder mit einigen Paradoxa zurück. Sie sehen einerseits, da will ich Ihnen überhaupt nicht widersprechen, festgefahrene Stellungen, wenig Bewegung, teilweise ganz schreckliche Bilder, die uns eher an den Stellungskrieg aus dem Ersten Weltkrieg erinnern. Sie sehen aber auch, dass Zahlen tatsächlich etwas ausmachen. Sei es bei Munition, es ist selten so viel Munition verfeuert worden. Sei es aber auch, dass in Russland ein Menschenleben überhaupt nicht zählt und junge Rekrutinnen und Rekruten aufs Schlachtfeld geworfen werden. Da sehen Sie ein ganz, ganz altes Kriegsbild.

Gleichzeitig sehen wir Drohnenangriffe und Hightech-Ausrüstung. Wir sehen also das eine als auch das andere, das meine ich mit Paradoxie. Was zurückbleibt, quasi die Schlussfolgerung, die man daraus ziehen muss, ist, sie müssen das eine wie das andere in Anführungsstrichen „jetzt betreiben“.

An der Stelle machen wir mal einen Punkt, weil jetzt müssten wir darüber sprechen, was braucht denn die Bundeswehr?  Für mich ist aber die entscheidende Frage, und die haben sie auch gestellt: Wie soll man denn eigentlich die NATO oder Deutschland verteidigen? Hierbei würde ich gern politisch antworten: Herr Putin ist ein böser Mensch, aber nach allem, was ich über ihn weiß, ist er nicht geisteskrank. Was meine ich damit? Putin wägt Risiken und Chancen seines Handelns ab. Vielleicht nach einem Kalkül, das wir nicht teilen. Zum Beispiel nach der Chance einer Wiederherstellung des Großrussischen Reichs oder der UdSSR. Das ist was, was wir hier alle im Raum nicht als „Chance“ sehen würden. Aber er wägt ab und das Ziel muss eigentlich sein, dass wir sein Abwägungskalkül so verändern, dass Putin nicht auf die Idee kommt, anzugreifen. Dass er weiß, das Risiko oder der Schaden, den er und seine Leute dabei nehmen, ist zu groß. Das ist die Antwort darauf. Wenn wir in einer Situation sind, wo wir das Baltikum aktiv verteidigen müssten, wäre das eine sehr böse Situation für alle Beteiligten. Ich glaube auch das wissen wir – und das wollen wir mittels Abschreckung vermeiden.

Dann zum Thema Abschreckung. Ich glaube, wir sind uns einig. Niemand möchte einen Krieg zwischen der NATO und Russland. Wenn man nun sagt, daher müssen wir abschrecken, braucht es dann auch tatsächlich die Wehrpflicht, um eben genug Soldatinnen und Soldaten zu haben, und glaubhaft abschrecken zu können?

Nils:
Ich frage mich natürlich, warum Friedensinstitute immer wieder sagen, die NATO sei konventionell überlegen, die Zahlen schwanken ja zwischen zehn- und zwanzigfach überlegen. Nun will ich an dieser Stelle weiter aufrüsten und Wehrpflichtige haben, womöglich die, die neuen Waffen bedienen, weil Freiwillige kriege ich nicht, so wie es bei der Rekrutierung aussieht. Der Drang zur Bundeswehr zu gehen, ist gerade sehr begrenzt, sie haben offensichtlich ein Personalmangel und brauchen auch Leute, die eher Techniker sind, also in die Richtung Luftabwehr und Elektronische Kampfführung. Dort werden wahrscheinlich eher Menschen gebraucht, und diesen Job können keine Wehrpflichtigen machen. Wie also stellen wir diese Abschreckung denn zunehmend her? Ich glaube, die Abschreckung ist bereits gegeben. Ich bin davon überzeugt, dass Putin sich das alles sehr genau überlegt. Und bei einer, sei es auch nur zehnfachen Überlegenheit, würde ich schon als Putin sagen, nein, das hat keinen Wert. Warum soll ich das riskieren für das Baltikum? Ich glaube daher nicht, dass so ein Angriff in dieser Form droht. Umso interessanter ist die Ukraine. Da geht es um Rohstoffe. Im Baltikum ist das nicht so. Das ist meine Überzeugung. Seit ich denken kann, erzählt man uns, der Russe kommt, dieses Feindbild hat so einen langen Bart, und ist heute wieder hochaktuell. Sie haben es ja selbst gesagt, der ist nicht verrückt, er kalkuliert das Risiko. Und bei einem Angriff droht ihm die Vernichtung seines ganzen russischen Reiches durch weitreichende Raketen aus Amerika. Dieses ganze Schreckensszenario sehe ich nicht, ich sehe die Belege dafür nicht, das sind reine Mutmaßungen. Jetzt wird uns gesagt 2028 kommen sie, dann haben Sie die Fähigkeiten aufgeholt. Sie sind gerade ja nicht einmal imstande, die Ukraine zu besiegen. Die russische Kriegsfähigkeit ist doch sehr begrenzt scheinbar.

Herr Lindner, wollen Sie?

Tobias Lindner:
Ja, ich probiere das einmal zu strukturieren. Ich würde erst mal noch gerne zurückkommen auf die Person Putin. Ich habe zwei Dinge gesagt: Er ist nicht verrückt, aber er ist ein böser Mensch. Und ich rate bei Wladimir Putin immer davon auszugehen, dass das, was er sagt, auch das ist, was er tut. Wenn man eine Arbeitshypothese im Umgang mit Putin hätte, wäre meine Grundhypothese, dass er „Wort hält“. Wenn sie sich öffentlichen Äußerungen ansehen, vor allem um das Jahr 2020, dann hat er zum Beispiel bestritten, dass es die Ukraine überhaupt gibt, also die Staatlichkeit und die Frage, gibt es eine ukrainische Nation oder Kultur bestritten. Ähnliches tut er derzeit auch beim Baltikum. Das mag für uns „verrückt“ erscheinen, aber das ist sozusagen das innere Korsett. Das ist das innere „Koordinatensystem“ von Wladimir Putin. Und so irre und abgründig das uns erscheint, müssen wir uns erstmal damit auseinandersetzen. Deswegen halte ich die Gefahr für real.

Nein, die NATO ist konventionell weder zehn noch zwanzig Mal stärker als Russland. Das andere ist, dass Putin einen massiven Aufrüstungskurs fährt. Russland produziert bei Heereseinheiten, z.B. gepanzerten Gefechtsfahrzeugen etwa jedes Jahr den Umfang, den wir jetzt in der Bundeswehr als Bestand haben. Das können wir nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen. Zur Personalstärke: ich glaube nicht, dass wir zum Wehrdienst alter Prägung zurückkehren werden. Sie haben recht, es gibt Probleme in der Rekrutierung. Und die Frage ist nun mal, wie schafft man diesen Aufwuchs sowohl in der Reserve als auch in den Streitkräften. Da gibt es jetzt Fragebogen, angelehnt an das schwedische Modell. Das ist ja auch der Gedanke dahinter, dass wer einmal ein paar Monate bei der Bundeswehr gedient hat, es sich dann leichter vorstellen kann, sich länger zu verpflichten. Wehrdienst sozusagen auch als Brücke der Rekrutierung.   

Wenn wir zu irgendwas zurückkehren sollten, dann verpflichtend zum Ausfüllen eines Fragebogens, was an Schweden angelehnt ist. Durch den „2 + 4 Vertrag“ sind wir ja ohnehin beschränkt auf einen maximalen Umfang von 370.000 Soldat*innen.

Diese Welt der 1980er, in der sie damals verweigert haben, ist jetzt eine andere. Auch unsere Realität ist gefährlich, aber es ist kein neuer Kalter Krieg, oder ein Kalter Krieg 2.0. Deswegen funktionieren auch die alten „Rezepte“ des Kalten Krieges nicht. Ich gehe noch einen Gedanken weiter, weil sie das Baltikum erwähnt haben und Stationierung deutscher Truppen. Wir müssen hier ein zweites Argument sehen. Wo sind Truppen stationiert und wie verlegefähig sind diese Truppen, wenn wir zehn Tage brauchen, um überhaupt das Baltikum zu erreichen? Wenn Herr Putin in dieser Zeit ein Land besetzen möchte, ist es halt auch eine andere Situation, weswegen wir dauerhaft eine Brigade in Litauen stationieren. Also es geht am Ende nicht nur um „Stärke“, sondern es geht auch um Präsenz und um Verlegefähigkeit.


Wir haben jetzt viele Themen angeschnitten und ich glaube, was sehr deutlich wird ist, wie breit überhaupt diese ganze sicherheitspolitische Debatte ist und wie viele Aspekte es da zu berücksichtigen gibt. Ich hätte gegen Ende nochmal eine Frage an sie beide.  Denken wir mal in die Zukunft, und vielleicht jetzt nicht nur ein Jahr, sondern auch vielleicht viele Jahre. Wie kann sich so ein Konflikt auflösen?

Nils:
Ich habe zwei Jungs, 25 und 32 Jahre alt, und ich mache mir große Sorgen um deren Zukunft. Also uns eint sicherlich die Angst oder die Befürchtung, dass hier viel zerstört werden könnte, in Europa, nicht nur die Ukraine. Ich sehe aber auch den Krieg gegen die Natur. Ich sehe, dass im Moment die ganze ökologische Zerstörung, der Klimawandel, völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Da herrscht gefühlt völliger Stillstand. Man hat eher das Gefühl, es gibt einen Rollback. Dieses Gefühl habe ich eben auch in der Friedenspolitik. Wo ist die Friedenspolitik? Das ist ja auch das, was viele der letzten Bundesregierung, der sie auch angehört haben, vorgeworfen haben. Ich würde mir wünschen, dass man eine Friedenspolitik überhaupt wieder ernst nimmt. Friedensforschung bedeutet ja auch, welche anderen Wege gibt es, sich zu verteidigen, jenseits von militärischer Verteidigung.

Ein Beispiel ist die soziale Verteidigung, in den besetzen Gebieten der Ukraine zum Beispiel. Die Menschen dort können nicht einfach mit der Waffe rumlaufen und sich verteidigen. Die müssen dann soziale Verteidigung ausüben und sich der Besatzung verweigern. Wie also können wir auch diese Seite wieder stärken? Das wäre dann auch noch mal eine Frage an Herrn Lindner. Was sehen sie für Chancen? Hier meine ich z.B. Abrüstungsverträge wieder anzugehen. Meines Wissens nach, war es Trump, der die letzten großen Verträge gekündigt hat. Glücklicherweise nicht alle, den Atomwaffensperrvertrag gibt es z.B. noch.

Dann gibt es auch den Atomwaffenverbotsvertrag bei der UN, dem sollte Deutschland doch beitreten. Wir brauchen keine Atomwaffen zur Verteidigung, die müssen meiner Meinung nach Weg aus Deutschland. Das halte ich für zentral, denn sie machen uns zum Angriffsziel. Da würde ich ein Zeichen setzen wollen, wäre ich in der Regierung. Friedenspolitik mag man als naiv ansehen, aber ich glaube nicht, dass die zwanzig Atombomben in Büchel uns wirklichen Schutz gewähren. Hier würde ich mir einen Paradigmenwechsel wünschen, wieder weg von diesem unsäglichen Begriff der Kriegsfähigkeit, hin zur Friedensfähigkeit. Wo wir andere Wege und Schritte unternehmen, um Kriege zu verhindern oder wie in der Ukraine zu beenden?

Herr Lindner, auch an Sie die Frage nach der Zukunft und dem Blick nach vorne. Wie kommen wir wieder auf einen grünen Zweig?

Tobias Lindner:
Zu Beginn möchte versuchen, auf ein paar Dinge zu reagieren. Ich will mal so anfangen, dass ich auch zwei Söhne habe. Die sind ein bisschen jünger als ihre beiden. Und natürlich mache ich mir Sorgen, in was für einer Welt die beiden aufwachsen werden, sowohl bei der Frage der Ökologie, der Klimapolitik, aber auch der Frage, ob sie in einem Europa in Frieden und Freiheit aufwachsen werden. Ich glaube, das treibt uns alle gemeinsam um.

Ich kann nur noch mal das betonen, was ich zu Beginn gesagt habe: das Ziel muss immer sein, Konflikte ohne militärische Gewalt zu lösen. Im Übrigen, auch das ist ein Teil unserer Politik gegenüber Russland. Wir sanktionieren Russland. Die Krux mit Sanktionen ist nur immer, dass sie langfristig wirken und es Zeit braucht. Aber wir setzen Russland wirtschaftlich unter Druck, um es zu einem Kurswechsel zu bewegen. Gerade weil wir keine militärischen Mittel gegen Russland gebrauchen wollen. Ich wehre mich so ein bisschen dagegen, dass nur das eine gesehen wird. Wir haben zu der Zeit, als ich der Bundesregierung angehört habe, eine Menge getan im Rahmen der Krisen- und Konfliktprävention im Auswärtigen Amt. Wenn sie das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze nehmen, das ZIF, wenn sie die Humanitäre Hilfe nehmen, die wir bereitgestellt haben und weiterhin bereitstellen. Wir waren nach den USA der zweitgrößte Geber kurzfristiger humanitärer Hilfe weltweit aber auch bei den Mitteln für die Krisen- und Konfliktprävention. Und wir haben zum Beispiel gerade auf dem afrikanischen Kontinent auch einiges erreicht. Das Problem, das kennen Sie, wenn sie sich damit beschäftigen, ist immer, dass der Konflikt, der eben nicht ausgebrochen ist, abends in den Nachrichten meistens nicht vorkommt. Die Erfolgsgeschichten über die Krisen, die gar nicht erst entstanden sind, werden meist nicht erzählt.

Mir persönlich fehlt noch ein Wort zum Thema Rüstungskontrolle und Abrüstung, auch weil sie das Thema Atomwaffen angesprochen haben. Ich habe für mich zwei Sätze, und auch die stehen im Spannungsverhältnis zueinander, als Leitmotiv. Der eine Satz lautet: Ich möchte, dass wir in einer atomwaffenfreien Welt leben, ich will eine Welt ohne Kernwaffen haben. Und der andere Satz ist das, was die NATO sagt: Solange es Kernwaffen gibt auf diesem Planeten, wird die NATO nun mal ein nukleares Bündnis sein. Und das lässt uns in Konflikten, in Dilemmata, in Spannungsverhältnissen zurück. Ich persönlich weiß nicht, ob uns das gelingen wird, vielleicht wächst auch in Moskau, und ehrlich gesagt muss das auch in Peking gleichzeitig geschehen, die Einsicht, dass man zumindest wieder mal zu einer Rüstungskontrollarchitektur zurückkehren sollte. Wir sollten Rüstungskontrolle immer komplementär zur Frage betrachten, ob wir uns verteidigen und abschrecken können. Die großen Abkommen, die erreicht wurden, zum Beispiel der START-Vertrag oder der INF-Vertrag, sind interessanterweise auf Höhepunkten des Kalten Krieges erreicht worden. Aber es braucht ehrlich gesagt dazu auch immer zwei Seiten. Sie haben jetzt nur auf Herrn Trump gedeutet und ich bin der Letzte, der ihn hier verteidigen möchte. Aber wenn sie zum Beispiel den INF-Vertrag nehmen, dann war es die Russische Föderation, die diesen Vertrag jahrelang gebrochen hat. Wir hatten am Ende die Beweise in unseren Händen.

Wir haben dazu auch lange noch diskutiert, bevor wir gesagt haben, wir kündigen jetzt den INF-Vertrag, wenn Russland dauerhaft dagegen verstößt. Ähnlich war es beim Vertrag über den offenen Himmel (Open Skies). Ich bin überhaupt nicht froh darüber, dass diese Rüstungskontrollarchitektur erodiert. Ich sehe das im Moment eher pessimistisch, weil eben aus Moskau, auch aus Peking, kaum Signale kommen, da wirklich in substanzielle Gespräche einzusteigen. Aber ich würde Ihnen recht geben, natürlich muss und darf das nicht unversucht bleiben. Da haben wir die verdammte Verantwortung, denn Rüstungskontrolle hat schließlich auch den Zweck Missverständnisse und Fehleinschätzungen zu vermeiden.

Ich würde mir daher wünschen, dass man in der einen oder anderen stillen Stunde auch darüber nachdenkt. Auch wenn sie mich hier, das sage ich offen mit den dreieinhalb Jahren Erfahrung, eher pessimistisch sehen. Das wäre für mich aber trotzdem jetzt kein Grund, sozusagen jegliche Anstrengung aufzugeben.

Die Fragen stellte Michael Schulze von Glaßer. Dieses Interview erschien in einer gekürzten Fassung in der ZivilCourage Ausgabe 3/2025

Kategorie: Zivilcourage

26.08.2025

Zwei unterschiedliche Wege zum Weltfrieden?

Erich Mühsam und Bertha von Suttner, anarchistischer Antimilitarismus und organisierter Pazifismus

Die ZivilCourage-Redaktion hat mich gebeten, die anarchistisch-antimilitaristischen Positionen Erich Mühsams zu skizzieren und aufzuzeigen, was die Unterschiede zwischen Pazifismus und Anarchistischem Antimilitarismus sind. Diese Frage möchte ich mithilfe Mühsams und einer weiteren historischen Persönlichkeit beantworten: Bertha von Suttner. Sie ist eine Ikone des organisierten Pazifismus, während Mühsams Leben und Werk vor allem von Anarchist*innen und Antifaschist*innen gewürdigt werden.

Bertha von Suttner

Die 1843 geborene österreichische Pazifistin Bertha von Suttner ist Namensgeberin der Bertha-von-Suttner-Stiftung. Sie war die erste Frau, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, und auch diejenige, die Alfred Nobel, den Erfinder des Dynamits, dazu inspirierte, diesen Preis zu stiften. Ihr 1889 erschienener Bestseller „Die Waffen nieder“ ist ein Roman über die Kriegsgräuel ihrer Zeit. Wie viele Pazifist*innen noch heute, appellierte sie an die Regierungen und forderte eine allgemeine Abrüstung und eine friedliche Beilegung von Streitigkeiten auf der Grundlage eines Völkerrechts. Ihr Buch machte sie zu einem Star der Friedensbewegung und inspirierte 1891 die Gründung der „Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde“. Die soziale Basis dieser sich als „unpolitisch“ verstehenden Gesellschaft war der liberale Adel (1). Das traf ebenso auf die 1892 in Berlin gegründete Friedensgesellschaft zu, deren Nachfolgeorganisation heute als Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen (DFG-VK) die größte pazifistische Organisation in Deutschland ist.

Erich Mühsam

Der 1878 geborene Erich Mühsam war u.a. durch die russischen Anarchisten Peter Kropotkin, Michail Bakunin und Leo Tolstoi inspiriert (2). Neben Gustav Landauer, Rudolf Rocker und Ernst Friedrich war er einer der einflussreichsten deutschen Anarchisten seiner Zeit. Mühsam war jüdischer Konfession, trat als Atheist aber aus dem Judentum aus.

Als Schriftsteller berühmt wurde er durch satirische Texte. Seine Gedichte, z.B. „Sich fügen heißt lügen“ und „Der Lampenputzer“, wurden musikalisch u.a. von Konstantin Wecker, Harry Rowohlt, Christoph Holzhöfer, Slime und Dieter Süverkrüp interpretiert.

Während des Ersten Weltkriegs versuchte er – ohne Erfolg – einen „Internationalen Bund der Kriegsgegner“ zu gründen. 1915 wurde er aufgrund seiner Kriegsdienstverweigerung zu sechs Monaten Haft verurteilt. Er war Autor u.a. in der vom Anarchopazifisten Gustav Landauer herausgegebenen Zeitschrift „Der Sozialist“ und in der von Carl von Ossietzky verantworteten „Weltbühne“.

Als sozialrevolutionärer Agitator war er 1919 maßgeblich an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt. Dafür saß er fünf Jahre in Festungshaft. Redakteur der anarchistischen Monatsschrift „Fanal“ war er von 1926 bis zum Verbot 1931 – wegen „Verächtlichmachung der Reichsregierung“.

Am 28. Februar 1933 wurde der bekannte Antifaschist verhaftet und am 10. Juli 1934 nach KZ-Haft und Folter auf bestialische Weise im KZ Oranienburg von SS-Männern ermordet.

Mühsam und Suttner

Aus antimilitaristischer Sicht besonders interessant ist „Kain“, die anarchistische „Zeitschrift für Menschlichkeit“ (Untertitel), die Mühsam von 1911 bis 1919 herausgab. Sie konnte während des Ersten Weltkriegs aufgrund der Pressezensur nicht mehr erscheinen.

Nach dem Tod Bertha von Suttners veröffentlichte Mühsam im Juli 1914 in „Kain“ Nr. 4 einen Nachruf auf die Nobelpreisträgerin. Er ehrt ihre Haltung und betont das gemeinsame Ziel, „den Weltfrieden“. Zudem spricht er die Unterschiede von Pazifismus und anarchistischem Antimilitarismus an: „Wir glauben nicht an internationale Verständigung zwischen den Staaten. Denn wir wissen, dass Staaten feindliche Abgrenzungen der Länder gegeneinander bedeuten.“ Mühsam war überzeugt, dass die Bevölkerungen, nicht die Regierungen, die Kriege aus der Welt schaffen werden. „Kapitalistische Staaten haben kapitalistische Interessen, und kapitalistische Interessen wissen nichts von Idealen. (…) Solange es Staaten und Heere gibt, wird es Kriege geben. Wir nehmen Bertha von Suttners Kampfruf auf, aber wir geben ihn nicht den Herrschern und Regierungen weiter, sondern den Völkern und Armeen: Die Waffen nieder!“ (3)

Mühsam setzte sich zeitlebens für eine soziale Revolution und eine freiheitlich-sozialistische Gesellschaft ein. Als Anarchist sah er die Hauptkriegsursache im Staat, in der Herrschaft von Menschen über Menschen, im System Befehl und Gehorsam, das den Massenmord auf Kommando erst möglich macht.

Im deutschen Kaiserreich begann die Militarisierung schon im Kindergarten. Mühsam erlebte Antisemitismus, Prügelpädagogik und den Kadavergehorsam preußischer Prägung.

Die DFG war zu Mühsams Zeiten eine von Adeligen und großbürgerlichen Gönnern dominierte elitäre Organisation, die Deserteure und KDVer nicht unterstützte und zum großen Teil den vermeintlichen „Verteidigungskrieg“ befürwortete. Wie die SPD wollten viele dieser bürgerlichen Pazifist*innen das Militär nicht abschaffen, sondern demokratisieren. Über die von ihnen abgehaltenen „Friedenskongresse“ spottete Mühsam:

„Wie arg es zugeht auf der Welt,
wird auf Kongressen festgestellt.
Man trinkt, man tanzt, man redet froh,
und alles bleibt beim Status quo.“ (4)   

Das Zerbrochene Gewehr

Das heute auch von Pazifist*innen und nicht anarchistischen Antimilitarist*innen genutzte Zerbrochene Gewehr war bis Ende des Ersten Weltkriegs ein Symbol, das fast ausschließlich von antimilitaristischen Anarchist*innen genutzt wurde. Es diente ihnen nicht nur zur – im Kaiserreich oft kriminalisierten – Agitation gegen den Militarismus und für Kriegsdienstverweigerung, Desertion und Sabotage an der Waffenproduktion, sondern auch als Erkennungszeichen. Seit Januar 1909 nutzten es die niederländischen Anarchist*innen der „Internationalen Anti-Militaristischen Vereniging“ in der Kopfzeile ihrer Zeitschrift „De Wapens neder“. Auch die anarchokommunistische Zeitung „Der Freie Arbeiter“ hatte es ab April 1909 in der Kopfzeile. Nach dem Ersten Weltkrieg war das Zerbrochene Gewehr zudem oft auf den Titelseiten der anarchosyndikalistischen Wochenzeitung „Der Syndikalist“ und auf Zeitschriften der anarchistischen Jugend zu sehen.

WRI

1921 wurde in den Niederlanden zunächst unter dem Namen „Paco“ (Esperanto-Wort für Frieden) die War Resisters’ International (WRI) (Internationale der Kriegsdienstgegner*innen) gegründet. Die WRI ist ein Netzwerk von anarchistischen und nicht-anarchistischen Antimilitarist*innen, Pazifist*innen und Kriegsdienstverweiger*innen. Ihr gehören 90 Organisationen in 40 Ländern an, in Deutschland u.a. die DFG-VK, die IdK und seit 1972 die gewaltfrei-anarchistische Monatszeitschrift Graswurzelrevolution.

Allen Unterschieden zwischen Pazifist*innen und anarchistischen Antimilitarist*innen zum Trotz, können sich heute viele von ihnen auf das Zerbrochene Gewehr als Symbol und die WRI-Erklärung als Handlungsmaxime einigen: „Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Deshalb bin ich fest entschlossen, keine Form von Krieg zu unterstützen und danach zu streben, alle Ursachen für Krieg zu beseitigen.“

Lasst uns gemeinsam den Rechtsruck und die Remilitarisierung stoppen und das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung und Asyl für Deserteur*innen durchsetzen.

Bernd Drücke

Dr. phil. Bernd Drücke ist Soziologe, seit Januar 1999 verantwortlicher Redakteur der Graswurzelrevolution und seit 2001 Mitglied der DFG-VK.

Anmerkungen:

1) Die Namensgeberin: Bertha von Suttner (1843-1914),https://bertha-von-suttner-stiftung.de/?page_id=55

2) Siehe: Tripper, Bandwurm, Anarchie. Erich Mühsams Tagebücher bieten Einblick ins Seelenleben, in die Ideenwelt, in Irrungen und Wirrungen eines sympathischen Anarchisten, Bernd Drücke, in: Erich Mühsam. Jedoch der Mut ist mein Genosse. Texte über Kampf und Revolution. Hg. von Peter Bürger und Lebenshaus Schwäbische Alb, edition pace, Hamburg 2025, S. 229 ff. ; Peter Bürger (Hg.): Erich Mühsam. Das große Morden. Texte gegen Militarismus und Krieg, edition pace, Hamburg 2025 ; Zur pazifistischen Kritik an Mühsams zeitweiliger Abkehr vom Anarchopazifismus tolstoischer Prägung siehe Peter Bürgers Artikel: Antimilitarismus und revolutionärer Militarismus? Anmerkungen zu Erich Mühsams Texten über Kampf und Revolution, https://www.graswurzel.net/gwr/2025/06/antimilitarismus-und-revolutionaerer-militarismus/

3) Nachruf von Erich Mühsam auf Bertha von Suttner (1914), in: Beatrix Müller-Kampel (Hg.), „Krieg ist der Mord auf Kommando“, Bürgerliche und anarchistische Friedenskonzepte Bertha von Suttners und Pierre Ramus, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2005, S. 155

4) Erich Mühsam: Kalender 1913, in: Brennende Erde, München 1920

Kategorie: Zivilcourage

12.08.2025

„Gerechtigkeyt und Freyheyt“ – 500 Jahre Bauernkrieg: erinnern, mahnen, weiterkämpfen

Vor 500 Jahren, im Jahr 1525, erschütterte ein gewaltiger Aufstand das Heilige Römische Reich: der Deutsche Bauernkrieg. Hunderttausende Menschen erhoben sich in einem der größten sozialen Proteste des 16. Jahrhunderts gegen feudale Unterdrückung, wirtschaftliche Ausbeutung und politische Willkür. Was mit reformatorischen Hoffnungen begann, mündete in einem revolutionären Ruf nach „Gerechtigkeyt“ – einem Ruf, der blutig niedergeschlagen wurde, aber bis heute nachhallt.

Zum Jubiläumsjahr 2025 widmen sich zahlreiche Ausstellungen und Projekte dem historischen Geschehen – nicht nur als Rückblick, sondern als Mahnung und Inspiration für heutige soziale Bewegungen. Insbesondere in Baden-Württemberg, aber auch in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Bayern wird das Gedenken mit regionalen Schwerpunkten lebendig gehalten.

Der Südwesten Deutschlands war ein Zentrum der damaligen Erhebung. Hier entstanden viele der berühmten „Zwölf Artikel“, einer der ersten sozialrevolutionären Grundrechtsforderungen Europas. Museen im ganzen Land greifen das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven auf.

Quelle: Scherer, Magdalena [@magda_lautseit1525]. (2025, 3. Mai). [KI-generiertes Bild einer historischen Szene des Bauernkriegs in Thüringen] [Foto]. Instagram. https://www.instagram.com/p/DLXP2IxMkzS/?img_index=4

Das Landesmuseum Württemberg lädt noch bis zum 5. Oktober 2025 zur großen Ausstellung „UFFRUR! Utopie und Widerstand im Bauernkrieg 1524/25“ ins Kloster Schussenried ein. Auf rund 900 Quadratmetern präsentiert das Museum originale Quellen wie die beeindruckende Weißenauer Chronik, Kleidung, Flugschriften und Waffen aus der Zeit des Bauernkriegs. Ein besonderer Höhepunkt sind moderne KI-generierte Figuren, die aus der Perspektive von Zeitzeugen – von Bauern über Adlige bis hin zu kirchlichen Gegnern – ihre Sicht auf Freiheit, Gerechtigkeit und Aufstand lebendig vermitteln

Parallel tourt die Roadshow „UFFRUR! … on the road“ durch mehrere Städte in Baden‑Württemberg; erste Stationen starteten im Frühjahr/Sommer 2025 und sie wird auch noch bis Herbst 2025 fortgeführt.

Weitere Ausstellungen gibt es in Beuren, Bad Urach, Gingen und Ulm. Diese Ausstellungen setzen sich nicht nur mit der Geschichte auseinander, sondern knüpfen Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, zivilem Ungehorsam und der Rolle der Religion in der Gesellschaft an die Gegenwart.

In Sachsen-Anhalt findet eine der zentralen Landesausstellungen zum Bauernkrieg unter dem Titel „1525! Aufstand für Gerechtigkeyt“ statt – organisiert unter anderem vom Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle sowie dem Museum Schloss Neuenburg in Freyburg.

Der Fokus liegt auf der revolutionären Sprengkraft der „Zwölf Artikel“, die als erste schriftlich fixierte Forderungen nach Freiheit, Mitbestimmung und Gerechtigkeit von unten gelten. Besonders wird auch das spannungsreiche Verhältnis zwischen der Reformation als religiösem Reformimpuls und der sozialen Radikalisierung der bäuerlichen Bewegung thematisiert (beide Ausstellungsteile bis 2. November 2025).

Mit dem Ausstellungsprojekt „freiheyt 1525“ erinnern Thüringen und Bayern gemeinsam an das bewegte Revolutionsjahr. Zentrale Orte des Gedenkens sind etwa Schloss Wilhelmsburg in Schmalkalden, wo die Rolle der thüringischen Bauern und ihre Forderung nach lokaler Selbstverwaltung in den Mittelpunkt rückt (bis 31. Oktober 2025), sowie das Museum für Franken in Würzburg, das das brutale Vorgehen gegen die Bauern in Franken und die Rolle der geistlichen Fürsten dokumentiert (bis 5. November 2025).

Erinnerung als Auftrag: Gewaltfreiheit und soziale Gerechtigkeit heute

Für die DFG-VK ist das Bauernkriegsjubiläum nicht nur eine historische Rückschau, sondern ein Anstoß, über die Bedingungen für gerechte, gewaltfreie gesellschaftliche Veränderung nachzudenken. Der Bauernkrieg zeigt, wie schnell aus berechtigten Forderungen gewaltsame Eskalation entstehen kann – aber auch, wie notwendig es ist, für Gerechtigkeit einzutreten, wenn politische und ökonomische Systeme versagen.

Die Forderungen der Bauern nach einer gerechteren Gesellschaft, nach Mitbestimmung, Freiheit und Schutz vor Ausbeutung sind 500 Jahre später nicht erledigt – sie sind aktueller denn je.

Wer tiefer in die Geschichte einsteigen möchte, dem sei die Website www.1525.de empfohlen.

Autor: Yannick Kiesel

Erscheint in der ZivilCourage 3/2025.

Kategorie: Zivilcourage

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