Ein Artikel der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 24.02.2022
Von Thomas Balbierer, Michael Bauchmüller, Daniel Brössler und Constanze von Bullion
Wo ist eigentlich die Friedensbewegung? Diese Frage wabert derzeit durch Gespräche, Berichte und Tweets. Auch am Dienstagabend ist die Frage zu hören, als sich Hunderte Menschen zu einem Protest vor der russischen Botschaft in Berlin versammeln und Parolen wie „Stop Putin, stop war!“ skandieren.
Eigentlich der perfekte Ort für das Comeback der Friedensbewegung – am Tag, an dem Russlands Präsident Wladimir Putin sich einen Kriegseinsatz in der benachbarten Ukraine genehmigen lässt. Doch hinter der Demo stehen Nachwuchsverbände von Parteien und eine kleine Gruppe junger Ukrainerinnen und Ukrainer.
Wo stecken die Friedensaktivisten mit ihren bunten Fahnen, den Friedenstauben und dem Peace-Symbol? Gibt es die Friedensbewegung überhaupt noch, die in Deutschland einst Hunderttausende auf die Straßen brachte, etwa gegen den Vietnamkrieg, die Stationierung von Atomraketen oder den US-Einmarsch in den Irak?
Anruf bei Thomas Carl Schwoerer. Der 64-Jährige ist seit seiner Jugend in der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) engagiert, der ältesten Organisation des deutschen Pazifismus. „Ja, es gibt die Friedensbewegung, und sie ist aktiv“, betont Schwoerer. Das Problem sei nicht, dass sich Kriegsgegner nicht zu Wort meldeten. Das Problem sei, dass sie in der deutschen Öffentlichkeit kaum Gehör fänden. „Es kommt zum Beispiel sehr selten vor, dass Vertreterinnen oder Vertreter der Friedensbewegung von Journalisten für Zitate angefragt werden“, sagt Schwoerer, der im Hauptberuf Verleger ist. Auch die Corona-Pandemie erschwere große Demonstrationen.
Auch der Westen habe in der Vergangenheit Fehler gemacht
Wäre der Protest lauter, wenn es sich um eine amerikanische Militärintervention handeln würde – schließlich steht die Friedensbewegung schon lange unter dem Verdacht des Anti-Amerikanismus? Schwoerer widerspricht. „Wir sind nicht einseitig, sondern kritisieren das, was zu kritisieren ist – auf allen Seiten.“
Er fügt hinzu, dass auch der Westen in der Vergangenheit Fehler gemacht habe. „Es ist zum Beispiel seit 1990 versäumt worden, Russland als gleichberechtigten Partner der gesamteuropäischen Friedensordnung ins Boot zu holen. Es wäre auch geschickter, die Politik der offenen Tür in der Nato zu revidieren, statt Russlands Kernforderungen abzuweisen.“ Was Putins Agieren nicht rechtfertige, so Schwoerer.
Am Dienstag verurteilt Schwoerers DFG-VK das russische Vorgehen als „völkerrechtswidrig“ und ruft für Sonntag zur Teilnahme an einer Menschenkette im Berliner Regierungsviertel auf – fast eine Woche nach der dramatischen Zuspitzung in Osteuropa.
„Weitere Nato-Truppen werden nach Osteuropa verlegt, Kriegswaffen und andere Rüstungsgüter an die Ukraine geliefert – was nicht der Entspannung der Situation dient“, heißt es in einem Aufruf, den die Organisation Campact herumschickt.
Auch Initiativen wie der „Europäische Austausch“, der sich für Solidarität mit der Ukraine stark macht, werden gefragt, ob sie mitmachen wollen. Doch den Entwurf des Aufrufs findet die Direktorin der Initiative, Stefanie Schiffer, indiskutabel. Er relativiere „die eindeutig von Russland ausgehende Aggression, schiebt einen Teil der Schuld der Nato zu“, schreibt sie an die Organisatoren. Das sei „falsch, geschichtsvergessen und unsolidarisch“.
Unterdessen machen Jusos, Junge Union, Grüne Jugend und Junge Liberale sowie ukrainische Aktivisten in Berlin vor, wie man schnell und öffentlichkeitswirksam zu einer Anti-Kriegs-Demonstration mobilisiert: Innerhalb weniger Stunden stellten sie am Dienstag eine Kundgebung mit rund 600 Teilnehmern vor der russischen Botschaft auf die Beine, vor Ort auch prominente Politiker wie SPD-Chefin Saskia Esken, Junge-Union-Vorsitzender Tilman Kuban und Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke).
Für viele Teilnehmer ein Zeichen der Hoffnung. „Es ist surreal. Vor einer Woche standen wir hier noch ganz allein. Jetzt haben wir eine Welle der Solidarität losgetreten“, sagte Maxim Gyrych. Der 24-jährige Politikstudent hatte die Kundgebung mitorganisiert.
Ist das nur der Anfang von weiteren, größeren Protesten?
Dass die Teilnehmerzahl im Vergleich zu früheren Anti-Kriegs-Demos überschaubar blieb, will die Grüne Jugend nicht als mangelndes Engagement werten. „Dass in wenigen Stunden, in der Pandemiezeit und bei Kälte Leute aus so unterschiedlichen politischen Gruppen zusammengekommen sind, ist extrem erfreulich“, sagt der Sprecher der Grünen Jugend, Timon Dzienus.
Auch in Hannover, Mainz und Dresden sei gegen die russische Ukraine-Politik protestiert worden. Ist das nur der Anfang von weiteren, größeren Protesten?
„Wenn es zu einer offenen Konfrontation kommt, ist die Friedensbewegung wieder auf den Beinen“, prophezeit der Berliner Bewegungsforscher Dieter Rucht.
Allerdings leide die Bewegung immer noch unter den sogenannten „Montagsmahnwachen für den Frieden“ von 2014. Diese Mahnwachen waren durch die Krimkrise ausgelöst, entwickelten sich aber zu einem Sammelbecken für Rechts- und Linksextreme. „Das hat viele aus der klassischen Friedensbewegung verschreckt“, sagt Rucht.
Eines hat der Protest jedenfalls schon bewirkt: Die Linke, deren Nachsicht für Russland bislang mindestens so groß war wie ihre Kritik an der Nato, verurteilt den Einmarsch in die Ukraine als völkerrechtswidrig: „Die russischen Truppen müssen zurückgezogen werden“, hieß es in einem gemeinsamen Schreiben von Fraktions- und Parteispitze.
Am Mittwoch folgte ein Vorstandsbeschluss, in dem Putins Begründung für das Vorrücken „illegitim“ genannt wird. Es ist die bislang deutlichste Abgrenzung von Russland und den Putin-Fans in den eigenen Reihen.
„Die Lage im östlichen Europa ist komplex, aber verantwortlich für die jetzige Eskalation ist allein das System Putin“, sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth (SPD). Auch er nahm am Protest vor der russischen Botschaft teil. Spätestens jetzt sei „der Zeitpunkt, deutlich mehr Empathie und Interesse für die Menschen in der Ukraine zu zeigen“, sagt er. „Das muss sich auch auf der Straße zeigen.“
Roths Parteikollegin, Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, kündigte am Mittwoch an, das Brandenburger Tor am Abend in den Farben der ukrainischen Nationalflagge zu beleuchten.
Artikel „Ein bisschen Friedensbewegung“ aus der Süddeutschen Zeitung vom 23.02.22 Weiterleiten