Pazifist und Aktivist Yurii Sheliazhenko aus der Ukraine spricht mit Democracy Now! unter anderem über gewaltfreien Widerstand in der Ukraine.
In der ukrainischen Stadt Cherson versammelten sich am Montag (21. März) Hunderte von gewaltfreien Kriegsgegner*innen, um sich gegen die russische Besetzung der Stadt zu wehren und den
erzwungenen Militärdienst abzulehnen. Die russischen Streitkräfte setzten Blendgranaten und Maschinengewehrfeuer ein, um die Menge zu zerstreuen.
In der Zwischenzeit wird US-Präsident Biden diese Woche zu einem NATO-Gipfel nach Brüssel reisen, wo die westlichen Verbündeten über ihre Reaktion beraten wollen, falls Russland Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen einsetzen sollte.
Beide Seiten des Krieges müssen zusammenkommen
und deeskalieren, sagt der in Kiew lebende ukrainische Friedensaktivist Yurii Sheliazhenko. „Was wir brauchen, ist keine Eskalation des Konflikts mit mehr Waffen, mehr Sanktionen, mehr Hass auf Russland und China, sondern stattdessen umfassende
Unten das original Interview mit Sheliazhenko und Amy Goodman (Democracy Now!) im Video und die deutsche Übersetzung als Text.
Video
Interview in deutscher Übersetzung
Amy Goodman: Hier ist Democracy Now! Ich bin Amy Goodman, zusammen mit Juan González.
Wir beenden die heutige Sendung in Kiew, Ukraine, wo wir mit Yurii Sheliazhenko sprechen werden. Er ist der Exekutivsekretär der ukrainischen pazifistischen Bewegung und Vorstandsmitglied des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung. Yurii ist außerdem Mitglied des Vorstands von World BEYOND War und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der KROK-Universität in Kiew, Ukraine.
Er hat die Berichte aus der besetzten südukrainischen Stadt Cherson aufmerksam verfolgt, wo die russischen Streitkräfte Betäubungsgranaten und Maschinengewehrfeuer einsetzten, um eine Menge von Hunderten von Menschen zu zerstreuen, die sich am Montag versammelt hatten, um gegen die
russische Besatzung zu protestieren.
Yurii, willkommen zurück bei Democracy Now! Du bist immer noch in Kiew. Kannst du uns sagen, was jetzt passiert und was du forderst?
Besonders interessiert mich zum Beispiel die fast einhellige Forderung nach einer Flugverbotszone, damit Russland die Städte nicht bombardieren kann, aber der Westen ist zutiefst besorgt, dass die Durchsetzung einer Flugverbotszone, also der Abschuss russischer Flugzeuge, zu einem Atomkrieg führen wird. Wie stehst Du dazu?
Yurii Sheliazhenko: Vielen Dank Amy und Grüße an alle friedliebenden Menschen auf der ganzen Welt.
Natürlich ist eine Flugverbotszone eine militarisierte Antwort auf die aktuelle Krise. Und was wir brauchen, ist keine Eskalation des Konflikts mit mehr Waffen, mehr Sanktionen, mehr Hass auf Russland und China, sondern natürlich stattdessen umfassende Friedensgespräche.
Und wissen Sie, die Vereinigten Staaten sind keine unbeteiligte Partei in diesem Konflikt. Im Gegenteil, dieser Konflikt geht über die Ukraine hinaus. Er hat zwei Seiten: einen Konflikt zwischen dem Westen und dem Osten und einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine.
Die NATO-Erweiterung ging der gewaltsamen Machtübernahme in Kiew durch – vom Westen geförderte – ukrainische Nationalist*innen im Jahr 2014 und der gewaltsamen Machtübernahme auf der Krim und im Donbass durch russische Nationalist*innen und russische Streitkräfte im selben Jahr voraus. 2014 war also ein Jahr, in dem dieser gewalttätige Konflikt zwischen der Regierung und den Separatisten begann. Und dann, nach schweren Kämpfen, nach Abschluss des Friedensabkommens, der Minsker Vereinbarungen, die von beiden Seiten nicht eingehalten wurden, und wir sehen objektive Berichte der OSZE über Waffenstillstandsverletzungen auf beiden Seiten. Und diese Waffenstillstandsverletzungen sind schon vor der russischen Invasion, dieser illegalen russischen Invasion in die Ukraine, eskaliert.
Und das ganze Problem ist, dass eine friedliche Lösung, die damals vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen international gebilligt wurde, nicht eingehalten wurde. Und jetzt sehen wir nicht Biden, Zelensky, Putin und Xi Jinping an einem Verhandlungstisch sitzen und darüber diskutieren, wie man die Welt zum Besseren verändern, jegliche Hegemonie beseitigen und Harmonie herstellen kann, wir sehen stattdessen diese Politik der Drohungen seitens der Vereinigten Staaten gegenüber Russland, seitens der Vereinigten Staaten gegenüber China, und diese Forderungen der kriegstreiberischen ukrainischen Zivilgesellschaft zur Einrichtung dieser Flugverbotszone.
Übrigens gibt es in der Ukraine einen unglaublichen Hass auf die Russen, und dieser Hass breitet sich in der ganzen Welt aus, nicht nur auf das kriegstreiberische Regime, sondern auch auf das russische Volk. Aber wir sehen, dass russische Menschen, viele von ihnen, gegen diesen Krieg sind. Und wissen Sie, ich möchte allen mutigen Menschen, die sich gewaltlos gegen den Krieg und die Kriegstreiberei wehren, die gegen die russische Besetzung der ukrainischen Stadt Cherson protestiert haben, meine Anerkennung aussprechen – ich bin ihnen dankbar. Und die Armee, die einmarschierende Armee, hat auf sie geschossen. Es ist eine Schande.
In der Ukraine gibt es viele Menschen, die eine gewaltfreie Lebensweise anstreben. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen in unserem Land, die vor der russischen Invasion einen Ersatzdienst geleistet haben, betrug 1.659. Diese Zahl stammt aus dem Jahresbericht 2021 über Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, der vom Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung veröffentlicht wurde. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass Europa im Jahr 2021 für viele Kriegsdienstverweigerer in mehreren Ländern kein sicherer Ort war: in der Ukraine, in Russland, auf der von Russland besetzten Krim und im Donbass, in der Türkei, im türkisch besetzten Nordteil Zyperns, in Aserbaidschan, Armenien, Weißrussland und anderen Ländern. Kriegsdienstverweigerer waren mit Strafverfolgung, Verhaftung, Prozessen vor Militärgerichten, Gefängnisstrafen, Geldstrafen, Einschüchterung, Angriffen, Morddrohungen und Diskriminierung konfrontiert.
In der Ukraine werden Kritik an der Armee und das Eintreten für die Kriegsdienstverweigerung als Hochverrat betrachtet und bestraft. In Russland wurden bei Antikriegskundgebungen Tausende von Menschen verhaftet und mit Geldstrafen belegt.
Ich möchte die Erklärung der Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen in Russland aus diesem EBCO-Jahresbericht zitieren: „Was in der Ukraine geschieht, ist ein von Russland entfesselter Krieg. Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen verurteilt die russische Militäraggression. Und fordert Russland auf, den Krieg zu beenden. Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen ruft die russischen Soldaten dazu auf, nicht an den Feindseligkeiten teilzunehmen. Werden Sie nicht zu Kriegsverbrechern. Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen ruft alle Rekruten dazu auf, den Militärdienst zu verweigern, sich für einen zivilen Ersatzdienst zu bewerben oder zu versuchen, aus medizinischen Gründen freigestellt zu werden“, Zitatende. Und natürlich verurteilt die Ukrainische Pazifistische Bewegung auch die militarisierte Reaktion der Ukraine und das Abwürgen der Verhandlungen, die, wie wir jetzt sehen, ein Ergebnis der Verfolgung einer militärische Lösung sind.
Juan González: Jurij, ich wollte dich nur fragen, weil wir nur noch ein paar Minuten haben – du hast bereits über die direkte Beteiligung der USA und der NATO gesprochen. Es wird sehr wenig berichtet, nicht nur über die Waffen, die der Westen an die Ukraine geliefert hat, sondern auch über die Satellitenüberwachungsdaten, die die ukrainische Armee höchstwahrscheinlich vom Westen erhält.
Und ich vermute, dass wir in einigen Jahren erfahren werden, dass die Drohnenangriffe auf die russischen Streitkräfte von amerikanischen Stützpunkten in Orten wie Nevada aus ferngesteuert wurden oder dass sich bereits eine beträchtliche Anzahl von CIA-Agent*innen und Sondereinsatzkräften
in der Ukraine befindet.
Wie Du sagst, es gibt Nationalist*innen auf allen Seiten, in Russland, in den USA und in der Ukraine, die diese Krise gerade jetzt angeheizt haben. Ich frage mich, wie Du den
Widerstand in der ukrainischen Bevölkerung gegen diesen Krieg einschätzt. Wie weit hat er sich ausgebreitet?
Sheliazhenko: Diese Eskalation ist das Ergebnis des Drängens von Rüstungsunternehmen. Wir wissen, dass der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin mit Raytheon verbunden ist. Er saß im Vorstand des Unternehmens. Und wir wissen, dass die Aktien von Raytheon an der New Yorker Börse um 6 % gestiegen sind. Und sie liefern Stinger-Raketen an die Ukraine. Der Hersteller von Javelin-Raketen (akustisch nicht vernehmbar], hat ein Wachstum von 38%. Und natürlich haben wir Lockheed Martin. Sie liefern F-35-Kampfjets. Sie haben ein Wachstum von 14%. Und sie profitieren vom Krieg, sie drängen auf Krieg, und sie hoffen sogar, noch mehr vom Blutvergießen zu profitieren, von der Zerstörung, und gleichzeitig irgendwie nicht bis zum Ausmaß eines Atomkriegs zu eskalieren.
Die Menschen sollten die Regierungen drängen, zu verhandeln, statt zu kämpfen. In den Vereinigten Staaten und in Europa gibt es eine Reihe von Aktionen gegen die Kriegstreiberei. Informationen lassen sich finden Website WorldBeyondWar.org unter dem Motto „Russia out of Ukraine, NATO Out of Existence.“ CODEPINK drängt Präsident Biden und den Kongress der Vereinigten Staaten in einer Petition weiter zu Verhandlungen statt Eskalation. Außerdem wird es am 28. April eine globale Mobilisierung unter dem Motto „Stop Lockheed Martin“ geben. Das Bündnis No to NATO hat angekündigt, dass sie im Juni 2022 dafür und gegen den NATO-Gipfel in Madrid demonstrieren werden. In Italien startete Movimento Nonviolento eine Kampagne zur Kriegsdienstverweigerung in Solidarität mit russischen und ukrainischen Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und denen, die sich der Wehrpflicht entziehen. In Europa erklärte die Kampagne Europa für den Frieden, dass europäische gewaltfreie Pazifisten Putin und Zelensky ein Ultimatum stellen: Stoppt den Krieg sofort, oder die Menschen werden Karawanen gewaltfreier Pazifisten aus ganz Europa organisieren, die alle möglichen Mittel nutzen, um unbewaffnet in die Konfliktgebiete zu reisen und sich als Friedenswächter zwischen die Kämpfenden zu platzieren. Was die Proteste in der Ukraine betrifft, so haben wir zum Beispiel diese beschämende –
Goodman: Yurii, wir haben nur noch fünf Sekunden.
Sheliazhenko: Ja, ich möchte sagen, dass eine Petition mit dem Titel „Erlaubt Männern zwischen 18 und 60 Jahren ohne militärische Erfahrung, die Ukraine zu verlassen“ auf OpenPetition.eu 59.000 Unterschriften gesammelt hat.
Goodman: Yurii, wir müssen es dabei belassen, aber ich danke Dir sehr, dass du bei uns gewesen bist. Yurii Sheliazhenko, Exekutivsekretär der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung.
Weiterführende Links
Democracy Now! vom 22. März 2022 auf YouTube Weiterleiten
Website von World Beyond War Weiterleiten
Webiste von CODEPINK Weiterleiten
Website von Movimento Nonviolento Weiterleiten