Das Gewaltsystem Militär produziert Gewalt nach innen und außen von Paul Schäfer für ZivilCourage 4/2008 (Mitgliedermagazin der DFG-VK)
Nach 46 Verhandlungstagen und der Vernehmung von mehr als 200 Zeugen hat das umfangreichste Gerichtsverfahren gegen Bundeswehrsoldaten am 12. März ein vorläufiges Ende gefunden. In diesem seit Juni 2005 laufenden Gerichtsverfahren ging es um die Misshandlungen von Bundeswehrrekruten bei vier simulierten Geiselnahmen im Rahmen von Ausbildungslehrgängen der 7. Kompanie des Instandsetzungsbataillons 7 in Coesfeld im 2. und 3. Quartal 2004. Ingesamt wurden 18 Soldaten angeklagt. Die Liste der Verfehlungen ist lang und schockierend: Den Rekruten wurden mit Kabelbindern die Hände auf dem Rücken gefesselt und die Augen verbunden. Es kam zu körperlichen Übergriffen mit Prellungen und Abschürfungen. Bei der „Befragung als Geisel“ wurden auch Foltermaßnahmen eingesetzt. Einem Rekruten wurde eine Kübelspritze vor den Mund gehalten, es wurden Stromstöße mit einem umgebauten Feldtelefon verabreicht. Die Opfer wurden zudem ausgiebig fotografiert. Mit dem Codewort „Tiffy“ – in diesem Kontext eine weitere Demütigung – hätten die Rekruten die Übung abbrechen können. Hiervon haben nur wenige Gebrauch gemacht. Alleine diese konkreten Vergehen der Ausbilderteams erfordern eine intensive Beschäftigung der Öffentlichkeit und vor allem der Bundeswehr mit den Vorfällen in Coesfeld.
Weitaus wichtiger als die Frage nach der Motivation der Täter stellt sich die Frage nach inneren Verfasstheit der Organisation, in der solche Ideen blühen können: Die Entstehungsgeschichte und der Verlauf des gesamten Verfahrens um die Misshandlungen in Coesfeld verdeutlicht, wie sehr dieser von der Bundeswehr wie immer als „Einzelfall“ bzw. „Einzelfälle“ verharmloste Vorfall ein Ergebnis ihres strukturellen Versagens ist. Die betroffenen Rekruten empfanden ihre menschenverachtende Behandlung durch das Ausbilderteam weitestgehend als „normal“ oder verzichteten aus Angst auf eine Dienstbeschwerde. Ein Betroffener äußerte gegenüber der Süddeutschen Zeitung am 10. März: „Wenn man in der Grundausbildung ist, denkt man, dass das normal ist.“ Der Prozess kam erst ins Rollen, als einer der betroffenen Soldaten sich später als Stabsdienstsoldat in der Geschäftsstelle der Wehrdisziplinaranwaltschaft nach der Rechtmäßigkeit der Ausbildung erkundigte. Während der Gerichtsverhandlung wurde zudem deutlich, dass den angeklagten Ausbildern jedes Unrechtsbewusstsein fehlte.
Unterm Strich ist es quasi eine positive Überraschung, dass es überhaupt zu Verurteilungen kam. In den Verfahren vor dem Landgericht Münster wurden insgesamt sechs Soldaten, darunter auch die zwei hauptverantwortlichen Ausbilder und der Kompaniechef, zu Bewährungsstrafen und fünf Soldaten zu Geldstrafen verurteilt. In den anderen Fällen erfolgten Freisprüche bzw. wurde das Verfahren eingestellt. Allerdings gingen in zehn Fällen die Angeklagten und in vier Fällen die Staatsanwaltschaft in Revision, so dass sich der Bundesgerichtshof noch damit befassen muss. Inzwischen hat auch der erste Rekrut am 16. Juni eine Schmerzensgeld-Klage beim Amtsgericht Coesfeld eingereicht.
Auch jenseits der juristischen Aufarbeitung wäre es allerdings fahrlässig, die Vorfälle von Coesfeld ad acta zu legen. Nicht einmal die Bundeswehr glaubt wirklich an ihre Einzelfallrhetorik. Allerdings hat sie ihrem Eigenverständnis nach angemessen reagiert und sich um tadellose Aufklärung bemüht: Nach dem Bekanntwerden der Vorfälle wurde sofort eine Untersuchungskommission eingesetzt. Anschließend wurden Disziplinarverfahren eingeleitet, die jedoch bis zur Verkündung der Revisionsurteile ausgesetzt sind. Für das Verteidigungsministerium ist der Fall somit fast abgeschlossen: „Die Urteile vom 12.3.08 bilden dabei den Schlusspunkt einer von der Bundeswehr bereits Ende 2004 offen und transparent dargelegten Einschätzung, dass verantwortliche Ausbilder ihre Dienstpflichten in nicht hinnehmbarer Weise verletzt haben“, hielt das Verteidigungsministerium in einem Bericht fest. Außerdem hat es interne Anhörungen durchgeführt und versucht, durch Schulungen und neue Weisungen das Führungspersonal und die Ausbilder zu sensibilisieren.
Angesichts fehlender Qualitätskontrollen kann über die Wirksamkeit dieser Maßnahmen aber nur spekuliert werden. Allerdings, und hier findet man den Kern des Problems, stellt das Verteidigungsministerium auch klar: „Von einer konsequenten Einsatzorientierung der Ausbildung – und dies schließt auch weiterhin Härten und hohe Belastungen mit ein – kann und darf jedoch auch zukünftig nicht abgewichen werden.“ Folgt die Bundeswehr dieser Vorgabe, ist es nur eine Frage der Zeit bis zum nächsten Coesfeld.
Allenthalben ist in der Bundeswehr zu beobachten, dass ihr Umbau zu einer Interventionsarmee die immanent im Militär angelegten Probleme verstärkt. Wie jede andere militärische Organisation arbeitet auch die Bundeswehr systematisch mit Gewalt. Gewalt wird offiziell nach außen angewandt und herrscht gleichzeitig im Inneren. Ein Rekrut muss zum Soldaten, zum Gewaltanwender erzogen und trainiert werden. Die Umerziehung der meist formbaren, heranwachsenden Personen fängt bereits mit der Grundausbildung und Grundwehrdienst an. Das Motto dabei lautet: „Anders gehen, anders stehen, anders grüßen, anders reden“. Die Rekruten werden u. a. in hohem Maß ihrer Privatsphäre beraubt und entindividualisiert. Sie sollen das Prinzip von „Befehl und Gehorsam“, was auch für Unterwerfung steht, verinnerlichen. Zur „Vermittlung“ bzw. Durchsetzung dieser Ziele wird auch Gewalt nach innen ausgeübt, die Rekruten erfahren Gewalt als etwas „normales“. Häufig wird allerdings das sinnlose Reinigen von Gerät und Unterkunft, inklusive des erneuten absichtlichen Unordnungschaffens durch den Vorgesetzten, willkürliche Ausgangssperren oder Wochenenddienste als Bestrafung für Krankmeldungen der Rekruten, oder Kollektivstrafen wegen des Verhaltens einzelner von den Rekruten nicht einmal als Form der Gewalt und Disziplinierung begriffen. Die in den Jahresberichten des Wehrbeauftragten geschilderten Episoden sind nur die Spitze des Eisberges. Die Vorfälle werden nur dann aufgegriffen, wenn sie von der als normal erwarteten Norm abweichen oder wenn ein Gewaltopfer sich selbst als Opfer der Gewalt wahrnimmt und sich traut, dagegen auch etwas zu unternehmen.
Eine Studie des Bundesjugendministeriums zum Thema „Gewalt gegen Männer“ kam 2004 zu der besorgniserregenden Feststellung, dass fast 60 % der befragten Männer während ihres Wehrdienstes schikaniert, unterdrückt, beleidigt oder gedemütigt wurden – 7 % sogar körperlich verletzt.
Erschwerend für die Erfassung der Gewaltformen und ihrer Opfer im Militär kommt hinzu, das innerhalb eines nach Befehl und Gehorsam strukturierten Gewaltapparates den Opfern die Perspektive geboten wird, durch Aufstieg in der militärischen Hierarchie dem Opferstatus zu entwachsen. Dies fängt bereits in kleinsten Gruppen an, z.B. durch die Teilnahme an entsprechenden Initiationsritualen.
Durch die verstärkte Ausrichtung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze und den wachsenden Personenkreises innerhalb der Bundeswehr, der an solchen Einsätzen teilgenommen hat, verändert sich auch das Selbstverständnis in den Streitkräften. Ins Zentrum rückt der Soldat als Krieger und Kämpfer, der sein Leben für Deutschland einsetzt und dabei vielen Gefahren ausgesetzt wird. Anlässlich der Verabschiedung des 250.000-ten Soldaten in den Auslandseinsatz am 3. Juni stellte Verteidigungsminister Jung denn auch klar: „Die Einsätze prägen mittlerweile das Bild der Bundeswehr nach innen und außen.“
Die Notwendigkeit körperlich und psychisch fordernder Ausbildung wird immer weniger in Frage gestellt – Grenzüberschreitungen inklusive. Parallel dazu ist in Teilen der Bundeswehr eine neue Suche nach Identitätsstiftung zu beobachten. Die 2006 bekanntgewordenen sadistischen und menschenverachtenden Initiationsrituale des für Auslandseinsätze vorgesehen Fallschirmjägerbataillons in Zweibrücken sprechen hier Bände. Das Posieren von Bundeswehrsoldaten mit Totenschädeln und das Verwenden von Wehrmachtsinsignien als Dekoration in Afghanistan können als weitere Indizien für diesen Trend angesehen werden.
Das neue Selbstverständnis der Bundeswehrsoldaten äußert sich zudem in dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung und Hervorhebung. Aktive und ehemalige Soldaten lancierten erfolgreich die Idee eines Ehrenmals für tote Soldaten und einer neuen Auszeichnung für besondere Taten bei einem Auslandseinsatz. Die bereitwillige Unterstützung dieser Anliegen durch das Verteidigungsministerium zeigt, wie fest verankert der Wunsch nach einer neuen Sinnstiftung bereits in der gesamten Breite der Bundeswehr ist. Eine solche Überhöhung des Soldatentums und die Förderung eines Opferkultes durch das gesonderte Gedenken an tote Soldaten wird über kurz oder lang zwangsläufig auch die Gesamtkonzeption der Inneren Führung untergraben.
Die Vorfälle in Coesfeld fügen sich in diesen Gesamtkontext ein. Auf Anordnung des Verteidigungsministeriums sollte die Simulation von Geiselnahmen (Ausbildung „Geiselhaft“ und „Verhalten als Geisel“) nur noch im Vereinte-Nationen-Ausbildungszentrum Hammelburg und dem Gefechtsübungszentrum Heer stattfinden, da nach Angaben des Ministeriums nur dort qualifiziertes medizinisches Personal vorhanden ist. An diese Regelung hat das Heeresführungskommando mit einer Weisung vom Februar 2004 erneut erinnert.
Gleichzeitig waren diese Ausbildungsabschnitte zwar in der Anweisung zur Truppenausbildung nicht vorgesehen, aber eben auch nicht ausdrücklich verboten. Zudem war es zu diesem Zeitpunkt bereits ein offenes Geheimnis, dass die Bundeswehr überlegte, auch im Rahmen der Allgemeinen Grundausbildung eine theoretische Lerneinheit zu Geiselnahmen wieder aufzunehmen – was pikanterweise auch im Oktober 2004 erfolgte. Dies war auch dem Ausbilder in Coesfeld bekannt, der selber in Vorbereitung auf seinen Auslandseinsatz an einem Lehrgang in Hammelburg teilgenommen hat.
Er wollte seinen Rekruten nun ein ähnliches „Highlight“ bieten und informierte darüber auch seinen Kompaniechef. Sowohl Ausbilder und Kompaniechef als auch Rekruten stellten weder den Sinn der Durchführung einer simulierten Geiselnahme im Rahmen dieses Ausbildungslehrgangs noch die Art und Weise der Durchführung in Frage. Stillschweigend wurde von den Rekruten akzeptiert, dass die Ausbilder so handeln dürfen, und dass eine solche Erfahrung, inklusive der Verletzung der individuellen Menschenwürde, zum Soldatenhandwerk gehört, da die „Einsatzrealität“ der Bundeswehr nun einmal so aussehe. Und in gewisser Weise wurde dies auch von den Richtern am Landgericht Münster unterstützt: Das Fesseln, das Verbinden der Augen und das Verladen auf einen Pritschenwagen stelle im Rahmen der militärischen Ausbildung keine Misshandlung dar. Ein Verhalten, dass im zivilen Leben umgehend Polizei und Staatsanwaltschaft auf den Plan rufen würde, ist offenbar strafrechtlich nicht relevant wenn es darum geht, kämpfen und leiden zu lernen.
Vor diesem Hintergrund ist es eine Illusion zu glauben, die Bundeswehr könne derzeit eine Neuauflage von Coesfeld oder ähnlicher Vorfälle der Vergangenheit verhindern. Der Wehrbeauftragte forderte zwar im Jahresbericht 2005: „Dem im Fall Coesfeld sichtbar gewordenen mangelnden Rechts- und Wertebewusstsein sowohl bei den Ausbildern aus auch den Rekruten wird sich die Ausbildung künftig stärker zuwenden müssen“.
Angesichts der neuen Interventionsmentalität gekoppelt mit den strukturellen Besonderheiten des militärischen Gewaltapparates und den ersten Indizien für die Entstehung neuer militaristischer Traditionslinien in der Bundeswehr mutet ein solches Unterfangen wie der Versuch der Quadratur des Kreises an. Überarbeitete Zentrale Dienstvorschriften für die Politische Bildung oder neue Weisungen für die einsatznahe Ausbildung reichen nicht aus. Die Qualität der politischen Bildung und die Wahrnehmung sozialer Verantwortung gegenüber Bundeswehrangehörigen sind letzten Endes nur eine Funktion des Verständnisses des Konzepts der Inneren Führung im Verteidigungsministerium und der Bereitschaft, das Konzept konsequent in der Praxis umzusetzen.
Ein Intensivseminar oder ein paar Stunden Unterricht mehr werden nicht dazu führen, dass sich der Umgang mit Gewaltfragen in den Streitkräften verändert – zumal die Ausbilder der Ausbilder in der Regel wiederum selber Bundeswehrangehörige sind.
Die am 28. Januar vom Verteidigungsminister erlassene überarbeitete Fassung der Zentralen Dienstvorschrift „Innere Führung“ trägt zwar dem veränderten Aufgabenprofil der Bundeswehr Rechnung. Allerdings scheint die Innere Führung weder im Verteidigungsministerium noch in der Bundeswehr insgesamt als zentrale Voraussetzung für die Festlegung und Erfüllung des Bundeswehrauftrags gesehen zu werden. Das Konzept der Inneren Führung wird von der Bundeswehr nur unter der Einschränkung weiter verfolgt und gepflegt, dass es die konkrete Auftragserfüllung nicht behindert. In diese Kerbe schlagen auch die Warnungen einiger Bundeswehrgeneräle, die Ausbildungsprogramme nicht mit weiteren Inhalten zu überlasten. Die Ausbildung solle auf den Kernauftrag zu konzentrieren.
Diesem Trend gilt es entgegenzuwirken. Die Vergangenheit hat gezeigt, wie notwendig und wichtig die kritische Öffentlichkeit hierfür ist. Bislang profitierte das Verteidigungsministerium von seiner restriktiven Informationspolitik über den inneren Zustand der Bundeswehr. Lediglich der Wehrbeauftragte des Bundestags kann sich ungehinderten Zugang zu den Kasernen verschaffen. Allerdings ist er bislang vor allem dann aktiv geworden, wenn SoldatInnen ihn über Missstände informiert haben. Der Bundestag muss den Wehrbeauftragten in Zukunft noch stärker ermutigen und in die Pflicht nehmen, in Eigeninitiative auch Problembereiche der Inneren Führung zu untersuchen und vor allem die Öffentlichkeit umgehend darüber zu informieren.
Neben unserem Engagement für eine Abrüstung der Bundeswehr dürfen wir die Entwicklung der inneren Verfasstheit der Bundeswehr nicht aus dem kritischen Blickfeld verlieren. Von der Bundesregierung sind dabei Verbesserungen einzufordern wie z.B.:
– die konsequente Verhängung von harten Disziplinarstrafen bei Vergehen der Führung und bei menschenunwürdiger Behandlung;
– der verstärkte Einsatz von zivilem Personal im Rahmen der politischen Bildung;
– die Stärkung der Rechte der Soldaten und Soldatinnen und Ermutigung, diese auch wahrzunehmen. Dies gilt insbesondere für die Zwangsdienstleistenden, die aufgrund der Hierarchie in der Bundeswehr von vorneherein eine schlechtere Grundlage dafür haben;
– die Abkehr von einer Nachwuchswerbung, die versucht über Technikbegeisterung und Action junge Menschen für die Bundeswehr zu begeistern;
– die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, insbesondere auch mit der Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses innerhalb der Bundeswehr unter Rückgriff auf die Erfahrung mit Auslandseinsätzen.
Paul Schäfer ist Bundestagsabgeordneter und verteidigungspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.