Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der DFG-VK, äußert sich zu den Angriffen auf Pazifist*innen, Pazifismus und die Friedensbewegung.
Was ist passiert?
Einschätzungen des politischen Geschäftsführers
Waffenlieferungen
Alternativen
Aufrüstung der Bundeswehr
Warum Pazifismus wichtiger ist denn je
Rund um die Ostermärsche gab es am vergangenen Wochenende mit Blick auf den Krieg in der Ukraine eine Debatte um Pazifismus. Dabei gab es – auch auf uns als Teil der „Friedensbewegung“ – scharfe Angriffe und eine leider häufig klischeebehaftete Berichterstattung. Es gibt zum Pazifismus aber keine Alternative.
Pazifist*innen unter Beschuss
Seit über 60 Jahren gehen am Osterwochenende zehntausende Menschen in Deutschland auf die Straßen, um für Frieden zu demonstrieren. In diesem Jahr fanden in etwa 120 Städten Aktionen statt. Wurden die vielerorts von unseren Mitgliedern organisierten Proteste jahrelang von der breiten Öffentlichkeit nur am Rande beachtet, so gab es nun bereits im Vorfeld der Aktionen eine kontroverse politische Debatte – und scharfe Angriffe gegen uns und unsere Positionen.
Sascha Lobo nannte die Ostermarsch-Teilnehmer*innen etwa “Lumpen-Pazifisten” und der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff bezeichnete die Organisator*innen der Ostermärsche pauschal als „fünfte Kolonne Putins“. Sie würden versuchen, die Ukraine zu schwächen. Für Protestforscher Prof. Dr. Dieter Rucht ist diese Aussage laut SPIEGEL-Online „blanker Unsinn“.
Protest gegen Politik Russlands
Wir können dies bestätigen. So haben wir in den vergangenen Jahren mehrfach vor der Botschaft Russlands in Berlin sowie vor den Konsulaten des Landes in verschiedenen Städten für Abrüstung – konkret etwa für den Erhalt des INF-Vertrags – demonstriert. Und – auch das sei hier nochmal betont – wir haben noch vor Kriegsbeginn am 9. Februar 2022 in Berlin mit einer Friedensaktion an die russische Seite appelliert, zu verhandeln und den sich anbahnenden Krieg nicht weiter vorzubereiten. Wie viele Protestaktionen vor russischen Regierungseinrichtungen in Deutschland hat Graf Lambsdorff schon organisiert?
Versuch einer Analyse
Mit dem Einmarsch Russlands am 24. Februar 2022 – und bereits 2014 mit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass – hat Wladimir Putin nicht nur unendliches menschliches Leid verursacht, sondern auch friedenspolitische Bemühungen der letzten Jahrzehnte zunichte gemacht. Kriege brechen nicht einfach aus, sondern sind menschengemacht. Sie haben – auf Fakten bezogen niedere und ablehnungswürdige – Motive und eine Vorgeschichte. Das bedeutet aber auch: Dieser Krieg wäre verhinderbar gewesen. Und eine an pazifistischen Grundsätzen und Vorstellungen orientierte Politik hätte diesen Krieg verhindert.
Denn dass es den aktuellen Krieg gibt, macht doch gerade das Versagen der europäischen Sicherheitspolitik deutlich – sowohl von russischer als auch westeuropäischer Seite. Es war doch gerade die Politik derjenigen, die den Pazifismus aktuell angreifen, die es in dreißig Jahren nach Ende des Kalten Kriegs nicht geschafft hat, dauerhaft Frieden in Europa herzustellen. Die Sicherheitsinteressen aller (!) osteuropäischer Staaten hätten beachtet und eine gemeinsame Sicherheitspolitik unter Einschluss Russlands geschaffen werden müssen. Der Abbau bis hin zu einem Verbot von Atomwaffen hätte vorangetrieben werden müssen, genauso wie ein strikter Rückbau von Waffenproduktion und -export.
Das wäre nicht einfach gewesen – aber das sind Politik und Diplomatie eben häufig nicht. In den rund fünfzig Jahren des Kalten Kriegs von beiden Seiten gegeneinander propagierte – teilweise rassistische – Feindbilder wurden nicht durchbrochen. Eine ideologiefreie Betrachtung ergibt, dass nicht nur die russische Seite Fehler gemacht hat, sondern auch die NATO ihre konfrontative Haltung gegen Russland nach dem Kalten Krieg kaum aufgegeben hat. Die Osterweiterung ist dafür ein Zeichen.
Diese – hier nur kurz geschilderte Analyse – steht nicht der klaren Feststellung entgegen, dass es Wladimir Putin ist, der den Angriffsbefehl gegeben hat und für den Krieg verantwortlich ist. In unseren zahlreichen Veröffentlichungen zum Ukraine-Krieg haben wir den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands bereits scharf verurteilt. Und natürlich gehört jede*r, der solch ein Verbrechen begeht, vor Gericht gestellt.
Der Pazifismus und die Menschen, die ihn vertreten, sind aber nicht schuld am Krieg. Und wie die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann, die auch DFG-VK Mitglied ist, sagte, ist es nicht gerecht, Menschen, die sich seit Jahrzehnten für Frieden einsetzten, vorzuwerfen, sie stünden auf der Seite Russlands.
Wir bleiben dabei: Keine Waffenlieferungen!
Nun möchte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) sogar schwere Waffen an die Ukraine liefern. Der von ihrer Partei noch im letzten Wahlkampf verbreitete Grundsatz, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, ist damit ebenso endgültig obsolet wie die Vorsilbe „feministisch“ für diese neue deutsche Außenpolitik.
„Frieden schaffen mit noch mehr Waffen“ funktioniert nicht
Ohne Frage befinden wir uns bei der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine aber in einem Dilemma: Die Menschen in der Ukraine werden angegriffen. Mit noch mehr Waffen können sie sich militärisch vermeintlich noch besser wehren. Damit ist bei vielen – auch der Bundesregierung – die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges verbunden: Man müsse nur genügend Waffen liefern und schwuppdiwupp sei der Krieg beendet. Das ist eine Fehlannahme. „Frieden schaffen mit noch mehr Waffen“ funktioniert nicht – das haben zahlreiche westliche Militäreinsätze und großangelegte Waffenlieferungen in Konfliktregionen in der Vergangenheit immer wieder gezeigt. Das westliche Desaster in Afghanistan ist nicht mal ein Jahr her – und scheinbar schon von vielen vergessen.
Was Waffenlieferungen bedeuten
Keine Beachtung findet in der öffentlichen Debatte gerade das moralische Dilemma, welches entsteht, wenn Deutschland Waffen liefert: Letztendlich werden mit den Waffen aus Deutschland Menschen getötet. Natürlich ist das russische Militär der Angreifer. Das heißt aber nicht automatisch, dass alle russischen Soldat*innen hinter dem Einsatz stehen. Mittlerweile ist bekannt, dass von Russland auch Wehrpflichtige in den Einsatz geschickt wurden. Zudem sollen viele Soldat*innen schlecht oder gänzlich falsch informiert in den Einsatz geschickt worden sein – ihnen soll etwa anfänglich gesagt worden sein, dass es sich nur um eine Übung handele. Wie einseitig russische Medien über die „militärische Sonderoperation“ – allein diesen Krieg als solchen zu bezeichnen, steht in Russland mittlerweile unter Strafe – berichten, ist hinlänglich bekannt. Wenn nun russische Soldat*innen aufgrund von Propaganda – falscher Information – in einen Krieg gedrängt oder gar gezwungen wurden und dort mit Waffen aus Deutschland getötet werden, ist das ein Problem.
Wie viele Zweifler*innen und Soldat*innen, die eigentlich nicht kämpfen wollen, es in der russischen Armee gibt, ist nicht zu beziffern. Natürlich wird es auch viele Soldat*innen geben, die vollends hinter dem Einsatz stehen. Doch die Moral in Reihen des russischen Militärs soll insgesamt schlecht sein. Dabei muss man sich immer bewusst sein: Wer im Militär – egal in welchem – den Befehl verweigert, dem drohen harte Konsequenzen. So sollen 60 russische Fallschirmjäger den Dienst verweigert haben – sie wurden entlassen und ihnen drohen Strafanzeigen. Russische Deserteur*innen sollen aber auch schon erschossen worden sein.
Ebenfalls problematisch ist es, wenn auf ukrainischer Seite Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren, denen es aktuell verboten ist, das Land zu verlassen, dazu verpflichtet werden, eine Waffe – womöglich auch „made in Germany“ – in die Hand nehmen zu müssen, um damit russische Soldat*innen zu töten. Wer deutsche Waffenexporte an die Ukraine billigt, nimmt all diese moralischen Dilemmata in Kauf – und letztlich noch mehr Tote.
Kein Ende des Krieges in Sicht
Auch wenn nicht klar ist, wie lange Wladimir Putin den Angriff auf die Ukraine führen will, so zeichnet sich aktuell ein immer längerer Krieg ab, der zunehmend brutaler wird. Je länger die Kämpfe dauern, desto mächtigere Waffen werden eingesetzt: Das zeigt sich gerade in der hart umkämpften Hafenstadt Mariupol, auf die Russlands Armee in der vergangenen Woche erstmals mit Überschall-Langstreckenbombern Angriffe geflogen haben soll. Und auch Massaker wie in Butscha werden kein Einzelfall bleiben. Jeder Tropfen Blut, der in diesem Krieg vergossen wird, lässt eine Beilegung der Kämpfe in noch weitere Ferne rücken. Ob die russische Seite ihren Angriff nach der Einnahme Mariupols einstellt, liegt allein in Wladimir Putins Händen.
Und was, wenn die ukrainische Seite dann einem Waffenstillstand nicht zustimmt und stattdessen ihrerseits versucht, die verlorenen Gebiete einschließlich der seit 2014 besetzten Gebiete in der Ost-Ukraine sowie die Krim zurückzuerobern? Und kommt es doch zu einem Waffenstillstand, hat das „Minsk II“-Abkommen gezeigt, wie brüchig dieser leider sein kann. Selbst wenn – was wir uns wünschen würden – der Krieg auf der Stelle endet, so wird der Konflikt noch Jahrzehnte andauern. Und je stärker beide Seiten hochgerüstet sind, desto grausamer wird jedes weitere Aufflammen sein. Waffenlieferungen werden diesen Konflikt nicht lösen. Das werden nur Verhandlungen.
Deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine
Einmal in Umlauf gebrachte Waffen tauchen zudem immer wieder in Konflikten auf: Die von der Bundesregierung durchgeführten und geplanten Lieferungen an die Ukraine sind – soweit bekannt – nicht mit einer Rückgabepflicht nach Ende des Konflikts oder zumindest des Krieges verbunden. Bereits in anderen Konflikten tauchen immer wieder überraschend westliche Waffen auf, die ursprünglich an andere Gruppen geliefert wurden. In ihrem langen Lebenszyklus sorgen die Waffen damit immer wieder für Leid und Tod. Waffenexporte sind unkontrollierbar und richten langfristig großen Schaden an.
Die Lieferung von Waffen aus Deutschland an die Ukraine birgt zudem die Gefahr, selbst Kriegspartei zu werden – fern jeder völkerrechtlichen Definition liegt diese Bewertung auch an Wladimir Putin. Die Bundesregierung hat von 2014 – dem Jahr der Krim-Annexion – bis 2020 bereits Waffenexporte in Höhe von 42 Millionen Euro in die Ukraine genehmigt. Wie viele davon tatsächlich geliefert wurden, ist öffentlich nicht bekannt. Bereits diese Lieferungen – und die vieler weiterer westlicher Staaten (allein aus den USA gab es seit 2014 Lieferungen in Höhe von 2,7 Milliarden US-Dollar) – haben nicht zu Frieden in der Region geführt. Und sie haben Wladimir Putin auch nicht von dem Versuch, die ganze Ukraine erobern zu wollen, abgehalten.
Ebenso wie die Umsetzung der Forderung nach einer von der NATO eingerichteten Flugverbotszone über der Ukraine könnten die westlichen Waffenlieferungen zu einer militärischen Eskalation des Krieges über das Staatsgebiet der Ukraine hinaus führen. Die deutschen Lieferungen könnten auch schon direkt bei der Übergabe an die Ukraine zum Ziel russischer Angriffe werden. Ein Krieg der Atommacht Russland mit der atomar bewaffneten NATO würde weder den (auch nach Deutschland geflüchteten) Ukrainer*innen noch den Menschen in Europa – einschließlich denen in Russland – helfen. Denn dann wäre alles verloren.
Das „Nein“ zu Waffenlieferungen mitten in einen Krieg hat die Bundesregierung am 27. Februar 2022 aufgegeben. Doch welchen Grundsätzen folgt die Bundesregierung nun in ihrer Waffenexportpolitik? Sie hat bisher nicht begründet, warum die Lieferungen an die Ukraine gerechtfertigt sind, Waffenexporte in andere Kriegsregionen hingegen weiter strikter gehandhabt oder gänzlich verboten werden. Bekommen bald auch die Kurd*innen in Rojava Waffen aus Deutschland, damit sie sich gegen die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei (die noch immer NATO-Mitglied ist) wehren können? Gerade greift die Türkei sogar auf dem Staatsgebiet des Irak an. Die Lieferungen in die Ukraine könnten Türöffner für eine vollkommen enthemmte Waffenexportpolitik sein. Wenn die Bundesregierung in Zukunft Waffenexporte in andere Kriegsregionen ablehnt, muss sie sich wiederum den Vorwurf einer – womöglich rassistischen – Ungleichbehandlung gefallen lassen.
Wir helfen den Opfern des Krieges – gewaltfrei
All diese Argumente werden in der aktuellen Debatte kaum gehört. Ganz im Gegenteil werden deutsche Waffenlieferungen oft als alternativlos dargestellt. Wenn wir also keine Waffen liefern wollen, lassen wir die Menschen, die wegen des Konflikts leiden, dann im Stich? Nein! Wir helfen auf vielfältige Weise, und es gibt viele Wege, die Situation für die vom Krieg Betroffenen zu verbessern.
Unterstützung Geflüchteter
Viele unserer Mitglieder sind in der Flüchtlingshilfe aktiv: Sie sammeln Spenden, unterstützen bei der Vermittlung von Wohnungen an Geflüchtete und vieles mehr. Diese direkte Hilfe verbinden wir gleichzeitig mit den politischen Forderungen an Russland, Fluchtkorridore zu ermöglichen, und an die EU, weiterhin Schutzsuchende aufzunehmen.
Proteste
Seit Beginn des russischen Einmarschs haben DFG-VK Aktive in zahlreichen Städten unzählige Antikriegsproteste organisiert: Diese – vor allem die von uns mitorganisierten Proteste am 27. Februar 2022 in Berlin mit einer halben Million Menschen und am 13. März 2022 in zahlreichen Großstädten mit über einhunderttausend Menschen – waren nicht nur ein starkes Signal für Frieden, sondern haben auch zur Organisation der Hilfsmaßnahmen für die vom Krieg Betroffenen beigetragen. Und die Antikriegsproteste gehen noch immer weiter.
Hilfe bei Kriegsdienstverweigerung
Wir unterstützen Soldat*innen, die desertieren, und setzen uns für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung ein: Kein Mensch darf dazu gezwungen werden, andere Menschen zu töten. Wir setzen uns daher politisch dafür ein, dass diejenigen, die nicht töten wollen, Schutz finden können – egal, welche Nationalität sie haben.
Solidarität mit russischen und ukrainischen Aktivist*innen
Schon lange stehen wir mit russischen Friedensaktivist*innen im Kontakt: Wir versuchen, sie zu unterstützen, was angesichts der Repression der russischen Regierung gegen sie aktuell leider sehr schwer ist (und aufgrund der Aussetzung des SWIFT-Zahlungsverkehrs können wir gerade auch keine finanzielle Unterstützung leisten). Den Friedensstimmen aus der Zivilgesellschaft sowohl in Russland als auch in der Ukraine versuchen wir eine Stimme zu geben.
Wir schließen uns den Forderungen der „Ukrainischen Pazifistischen Bewegung“ vom 17. April 2022 an: Es muss einen sofortigen Waffenstillstand geben. Die Unterstützung militanter Radikaler durch Russland und die NATO-Staaten muss aufhören. Die ausführlichen Forderungen gibt es hier zu lesen.
Weitere Handlungsmöglichkeiten
Das ist es, was wir als Friedensorganisation mit unseren sehr begrenzten Kapazitäten und Mitteln – unser Jahresetat beträgt ungefähr so viel, wie die Bundeswehr 2016 für Werbe-Pizzakartons ausgegeben hat – leisten. Doch Alternativen zum gewaltsamen Widerstand gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine gibt es noch viele weitere.
Diplomatische Verhandlungen
Auch wenn dies hierzulande bisweilen als „ketzerisch“ angesehen wird: Man muss mit Wladimir Putin verhandeln. Und Diplomatie und Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien finden sogar bereits statt: Es gab einige Treffen zwischen der russischen und ukrainischen Regierung. Dabei könnten Deutschland und die EU der Ukraine auch die Rücknahme westlicher Sanktionen als Verhandlungsmasse gegenüber Russland in die Hand geben.
Gezielte Sanktionen
Wirtschaftssanktionen sehen wir als ein Mittel an, um Druck auf die russische Regierung sowie Profiteur*innen und Unterstützer*innen des Krieges auszuüben; diese müssen aber möglichst gezielt sein. Wir bekommen auch mit, wie die aktuellen Sanktionen die Arbeit russischer Oppositioneller zum Erliegen bringen. Sanktionen dürfen dabei nicht unter dem Vorbehalt eigener wirtschaftlicher Interessen stehen. Wenn der Krieg durch Sanktionen beendet werden soll, darf auf eigene Nachteile keine Rücksicht genommen werden.
Gewaltfreier Widerstand
Wir begrüßen den vielerorts geleisteten gewaltfreien Widerstand in der Ukraine: Wer besetzt ist, ist noch lange nicht besiegt. Und die Möglichkeiten einer „sozialen Verteidigung“ sind angesichts der geringen sprachlichen und kulturellen Barriere zwischen den Angreifern und den Angegriffenen gut.
Dies waren nur einige Beispiele für Alternativen zu den moralisch fragwürdigen Waffenlieferungen. Einige davon werden – auch von uns – schon umgesetzt, andere könnten intensiver verfolgt und weitere überhaupt erst einmal angegangen werden.
Die Aufrüstung der Bundeswehr ist falsch
Doch nicht nur über die Art der Hilfen für die Menschen in der Ukraine wird aktuell gestritten, sondern auch über Änderungen in der deutschen Sicherheitspolitik.
Am 27. Februar 2022 hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ein 100 Milliarden Euro-„Sondervermögen“ für die Bundeswehr angekündigt. Zwei Wochen später hat das Bundeskabinett diesem größten Aufrüstungsprogramm für das deutsche Militär seit dem Zweiten Weltkrieg zugestimmt – durch den Bundestag ist es noch nicht. Das „Sondervermögen“ soll helfen, das 2%-Ziel der NATO zu erreichen – und noch mehr. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), verbreitete dazu im Bundestag und in den Medien die Falschbehauptung, die Bundeswehr sei in den vergangenen Jahrzehnten „kaputtgespart“ worden. Dies ist angesichts einer Erhöhung des Bundeswehretats von 31,9 Milliarden Euro im Jahr 2012 auf 50,3 Milliarden Euro im Jahr 2022 – ein Plus von 58 Prozent – eine glatte Lüge. Dass die Bundeswehr Probleme mit Waffen und anderer Ausrüstung hat, ist schlicht Misswirtschaft. Gerade eine Partei wie die FDP sollte lieber hier ansetzen, als noch mehr Geld in dieses olivgrüne „schwarze Loch“ zu werfen. Doch was soll die Aufrüstung der Bundeswehr sicherheitspolitisch überhaupt bringen?
Krieg zwischen Russland und NATO?
Zunächst einmal: Wenn es zu einem Krieg zwischen der NATO und Russland kommen würde, wäre er wohl schnell – spätestens, wenn die erste größere Stadt einer Seite zu fallen droht – atomar. Dann nützen einem auch Panzerverbände, Drohnen und andere konventionelle Waffen wenig. Lässt man dies außer Acht – wie es aktuell viele regierende Politiker*innen machen – muss man sich den aktuellen Zustand der russischen Streitkräfte vergegenwärtigen. Natürlich ist Wladimir Putins Armee bedrohlich und gefährlich – das zeigen die Bilder der Toten und der Zerstörung aus der Ukraine. Zudem verfügt Russland über Atomwaffen. Doch selbst wenn das russische Militär beim Angriff auf die Ukraine bisher nicht all sein konventionelles Arsenal zum Einsatz gebracht hat, so zeigen die gescheiterten Einmarschversuche in Kiew und anderen Teilen des Landes deutlich, wie schwach die russischen Streitkräfte tatsächlich sind. Die Bundeswehr und die mit ihr verbündeten Armeen sollten dagegen schon in ihrem aktuellen Zustand mit einer gewissen – so man dies in einem Krieg sagen kann – „Leichtigkeit“ ankommen.
Abschreckung sinnlos
Ein anderes Argument der Aufrüstungsbefürworter*innen ist „Abschreckung“. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist vollkommen inakzeptabel und muss sofort beendet werden. Es muss aber auch klar gesagt werden: Die Ukraine wurde angegriffen, nicht die NATO. Daher zeigt der Krieg nicht, dass die aktuelle Abschreckung unzureichend wäre. Die NATO gibt deutlich mehr für Rüstung aus als Russland. Und ob die NATO-Militärausgaben die Russlands nun 18 Mal (wie es 2021 der Fall war) oder 18,5 Mal (wie es bald der Fall sein könnte) übertreffen, wird Wladimir Putin egal sein. Aber die Symbolik der Aufrüstung der Bundeswehr – und der weiterer Staaten – wird Folgen haben: Russland wird ebenfalls (weiter) aufrüsten. Damit ist letztendlich niemandem geholfen. Und weder der Krieg in der Ukraine, noch die Auseinandersetzung zwischen Russland und den NATO-Staaten ist damit gelöst. Ganz im Gegenteil wird die Aufrüstung zu mehr Konflikten und Kriegen führen. Jeder Euro, Dollar oder Rubel, der ins Militär fließt, fehlt im Kampf gegen Menschheitsprobleme wie die Corona-Pandemie, die Klimakatastrophe oder Armut. Diese werden zu neuen militärischen Auseinandersetzungen führen.
Sicherheitspolitisch bringt die Aufrüstung der Bundeswehr also nichts – sie wird letztendlich nur zu mehr Unsicherheit führen. Sie ist blinder und hirnloser Aktionismus.
Fazit: Warum Pazifismus gerade wichtiger denn je ist
Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, führt an Pazifismus kein Weg vorbei. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist ein Verbrechen. Und dennoch ist „Aufrüstung“ als Reaktion darauf kein Sachzwang. Für Deutschland gäbe es zahlreiche Möglichkeiten, den Menschen in der Ukraine humanitär und gewaltfrei zu helfen.
Wer hingegen Friedensgruppen, wie es zuletzt einige politische Kommentator*innen und regierende Politiker*innen taten, vorwirft, für das Leiden in der Ukraine mitverantwortlich zu sein, verdreht die Tatsachen und verkennt zudem den globalen Charakter der Forderung nach Frieden und Abrüstung – wenn wir bei den Ostermärschen unser Ziel „Militär abschaffen!“ ausrufen, meinen wir damit nicht nur das „eigene“ Militär, sondern auch die chinesische Volksbefreiungsarmee, die Streitkräfte der Russischen Föderation und eben alle! Wir setzen uns schon immer dafür ein, das – sicher noch weit entfernte – Ziel einer Welt ohne Militär und kriegerische Gewalt zu erreichen. Die Sicherheitspolitik der letzten dreißig Jahre – die ganz Europas einschließlich der Russlands und der Ukraine – hat dieses Ziel nicht verfolgt und ist dadurch gescheitert. Die Realpolitik war weiter auf Konfrontation aus. Nun heißt es zu verstehen, was falsch gelaufen ist und daraus zu lernen.
Natürlich hat Russlands Krieg eine pazifistische Welt in weite Ferne gerückt. Das darf uns aber nicht daran hindern, sie weiter als Menschheitsziel anzustreben. Es sind ja gerade diejenigen, die sagen, dass eine pazifistische Welt unerreichbar ist, die durch ihre Aufrüstung, ihre Waffenexporte sowie ihre Kriege eben den Grund dafür liefern, warum wir diesem Ziel seit langem kaum näher kommen. Dies gilt auch für Deutschland: Statt besonnen und rational zu analysieren, macht die Bundesregierung einen sicherheitspolitischen Schnellschuss nach dem anderen und verbaut einer friedlichen Zukunft damit langfristig den Weg. Immerhin: Die Teilnahme als Beobachterin an der ersten Konferenz zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag im Juni 2022 in Wien hat sie noch nicht abgesagt – dafür aber den Kauf neuer F35-Tarnkappenbomber angekündigt, um auch in den nächsten Jahrzehnten die letzten in Deutschland gelagerten US-Atomwaffen abwerfen zu können. Das wird die gegenseitige Bedrohung mit Massenvernichtungswaffen zementieren.
Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Das Töten und das Sterben müssen beendet werden. Militarismus, Bellizismus und Nationalismus müssen Einhalt geboten werden.
Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), 22. April 2022 – Mit Dank an die Helfer*innen bei diesem Text
Weiterführende Links
Ostermarsch-Rede zur Ukraine von Jürgen Grässlin vom 22. April 2022 in Ingolstadt Weiterleiten
Erklärung der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung vom 17. April 2022 Weiterleiten
„Wollen wir drittgrößte Militärmacht werden?“ von Thomas C. Schwoerer am 7. April 2022 in der Frankfurter Rundschau Weiterleiten
„Militärische Scheinlösungen haben versagt“ Podcast mit Thomas C. Schwoerer in der SZ am 24. März 2022 Weiterleiten