Die Angriffe des Westens auf arabische Länder haben überhaupt erst zu der Militanz geführt. Gespräch mit Lühr Henken

Nach den Attacken des »Islamischen Staats« (IS) auf Paris beruft sich die französische Regierung auf den Bündnisfall und beantragt militärischen Beistand der EU-Mitglieder. Wie wird sich das hierzulande auswirken?
Es ist ein Novum, dass ein EU-Staat den Bündnisfall ausruft. Erstmalig zeigt sich: Die Europäische Union ist ein Militärpakt und hat den zivilen Charakter abgelegt. Frankreich scheint entschlossen, den Krieg mit Luftangriffen gegen Syrien, den es sowieso bereits führt, nun zu intensivieren. Die deutsche CDU-SPD-Bundesregierung hält sich dazu bedeckt. Sie beabsichtigt aber, im Windschatten der IS-Attacken auf Paris ihren Auslandseinsatz der Bundeswehr in Mali auszuweiten; um dies als »Solidarität« verkaufen zu können, was selbst in konservativen Kreisen umstritten ist. Beispielsweise Michael Wolffsohn, emeritierter Professor der Bundeswehr-Universität, hat dies auf Bild online deutlich kritisiert, weil die Bundesregierung sich so ein neues Afghanistan schaffe. Letztere treibt aber die Militarisierung der Außenpolitik voran.
Deutlich ist von Krieg die Rede, aber die Friedensbewegung scheint in Schockstarre …
Ein Aufschrei wird erfolgen, aber die Lage ist zu kompliziert, um schnell zu reagieren. Sie stellt sich so dar: Frankreich und Russland, als militärisch getroffene Länder, reagieren entsprechend, denn der IS hat auch die Verantwortung für den kürzlichen Absturz des Airbus A321 über Ägypten übernommen. Neuerlich gibt es aber sogar skeptische Reaktionen Barack Obamas hinsichtlich der Militäroffensive: Aus Rakka in Syrien und Mossul im Irak sei die Terrormiliz zwar kurzfristig zu vertreiben – aber was dann? Wenn sich die Armeen wieder zurückziehen, wäre die Stabilität mutmaßlich nicht mehr gewährleistet. Zudem könne es keine Lösung sein, in alle Krisengebiete der Welt Soldaten zu schicken, meint selbst der amerikanische Präsident. Am 5. und 6. Dezember beim 22. Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel werden wir all dies diskutieren.
Die französische Regierung hat den Ausnahmezustand verhängt. Kündigt sich Ähnliches nach der Absage des Fußballspiels aufgrund einer Terrorwarnung in Hannover auch in Deutschland an?
Ich gehe davon aus, dass die Kriegführung Frankreichs auch hierzulande die Bevölkerung stärker gefährden wird. Eine Gewaltspirale setzt sich in Gang. Den Krieg zu forcieren ist der falsche Weg, politische Lösungsansätze sind voranzutreiben. Vergegenwärtigen müssen wir uns auch, dass die Kriege, die die USA im Irak, Afghanistan und Libyen geführt haben, diese organisierte Militanz erst hervorgerufen haben. Es gilt nun, alle am Konflikt beteiligten Parteien am Verhandlungstisch zusammenzuführen sowie die Integration perspektivloser Migranten in den europäischen Ländern zu fördern.
Welche Zielrichtung muss die Friedensbewegung vorgeben?
Krieg kann kein Mittel sein, um den Terror zu beenden. Krieg verschlimmert alles.
Wie ist dem Terror des IS statt dessen zu begegnen?
Die NATO sollte ihr Mitglied Türkei daran hindern, den IS weiterhin zu fördern. Der Handel mit der Terrormiliz via Türkei muss eingestellt werden – ob mit Erdöl, Lebensmitteln oder Material, um Waffen herzustellen. Auf die Golfstaaten ist einzuwirken, um deren Finanzfluss an den IS zu unterbinden.
Die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union hätten bislang keineswegs diplomatische Möglichkeiten hierzu ausgeschöpft – und weder auf die türkische AKP-Regierung Druck ausgeübt noch auf Saudi-Arabien, monieren Kritiker. Wie sehen Sie das?
Die Friedensbewegung fordert die Bundesregierung auf, mit all ihren Kräften darauf hinzuwirken, den IS ökonomisch zu isolieren und auszutrocknen. Zudem gilt es, Kämpfer aus westlichen Ländern daran zu hindern, nach Syrien oder in den Irak zu gehen. Wie einige Kräfte in der CDU/CSU sofort in Kriegsgeschrei auszubrechen, ist kontraproduktiv. Das Bewusstsein in der deutschen Bevölkerung, dass so nichts zu erreichen ist, muss sich auch in der Bundesregierung langsam herumsprechen. Selbst in Polittalkshows wie bei »Markus Lanz« im ZDF ist es mittlerweile Konsens, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Lage zu analysieren.
Das Gespräch erschien zuerst in der Tageszeitung junge Welt vom 19.11.2015
Interview: Gitta Düperthal