IMI-Studie 2008/03 – in: AUSDRUCK (Februar 2008)
Wolfgang Schäuble (CDU) ist scheinbar besessen: Seit Jahr und Tag predigt er den Inlandseinsatz der Bundeswehr, vom Objektschutz über die Bekämpfung von Demonstranten bis zum Abschuss „verdächtiger“ Zivilflugzeuge. Doch der Bundesinnenminister ist nur der lauteste Vertreter einer Heimatschutz-Fraktion, die das Militär zum innenpolitischen Ordnungsfaktor machen will. Sie redet nicht nur, sondern handelt.
Davon, dass die deutsche Geschichte nur allzu viele und höchst abschreckende Beispiele von militärischen Inlandseinsätzen kennt, ist bemerkenswert wenig die Rede. Dabei war es im 19. Jahrhundert noch Alltag, das Militär als innenpolitisches Hilfsmittel der Herrschenden einzusetzen. „Militair- und Civilbediente sind vorzüglich bestimmt, die Sicherheit, die gute Ordnung, und den Wohlstand des Staats unterhalten und fördern zu helfen“, hieß es in Paragraph 1 des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794. Soldaten wurden mangels einer flächendeckenden Polizei gar als Zwangsvollstrecker für simple Verwaltungs- und Gerichtsbeschlüsse verwendet, in Sachsen bis 1868 als Steuereintreiber, in Hessen-Nassau als Wildtreiber.[1]
Im Deutschen Reich ist nach 1871 die Polizei ausgebaut worden, eine strikte Trennung zwischen Militär- und Polizeiaufgaben gab es jedoch nicht. Weiterhin agierten militärisch strukturierte Länder-Gendarmerien „im Grenzbereich zwischen Militär und Polizei“,[2] und die in den Kolonien stationierten Kaiserlichen Schutztruppen waren für die gesamte Palette der „öffentlichen Sicherheit“ zuständig.
Aber auch für die regulären Streitkräfte sah die bismarcksche Reichsverfassung Möglichkeiten zum inneren Einsatz vor. So zum Zwecke des „Staatsschutzes“: Nach Artikel 68 konnte der Kaiser, „wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden Teil desselben in Kriegszustand“ erklären, was bis 1914 zwar nie vollzogen, aber mehrfach erwogen wurde, um gegen Streiks vorzugehen.
Zusätzlich konnten einzelne Länder den so genannten „kleinen Belagerungszustand“ verhängen, der einzelne Grundrechte lokal und zeitlich begrenzt suspendierte, etwa in Fällen des Krieges oder des Aufruhrs. Auch damals nahm man es mit dem Gesetz nicht immer genau: Zur Verhängung des „großen“ Belagerungszustandes beim Streik 1885 in Bielefeld war Preußen laut Reichsverfassung gar nicht befugt, dennoch wurde die Maßnahme vom preußischen Staatsministerium gebilligt.[3]
Streikbekämpfung
Von größerer praktischer Bedeutung waren polizeiliche Verwendungen außerhalb des Staatsnotstandes. Den Anlass bildeten fast immer Streiks und Arbeiterproteste.
So marschierten im Juni 1871 frisch von den französischen Schlachtfeldern kommende Ulanen nach Oberschlesien, um den Streik von 3000 Bergabeitern in Königshütte niederzuschlagen. Laut damaliger Presse haben sie „mit staunenswerter Gewandtheit und Bravour“ die Straßen „gesäubert“ und dabei sieben Arbeiter erschossen.
1872 fanden Streiks im Essener und Oberhausen-Mühlheimer Revier statt, mit denen unter anderem der Achtstundentag gefordert wurde – ein Fall fürs Militär. Im gleichen Jahr gab es in Berlin Proteste gegen die miserablen Wohnungsbedingungen, auch diese wurden mit Militär eingedämmt. 1876 gingen zwei Kompanien Infanterie und eine Kavallerie-Abteilung gegen demonstrierende Landarbeiter in Ostpreußen vor, 1885 wurde wegen „öffentlicher Zusammenrottungen“ und „Widerstand“ durch Arbeiter der Belagerungszustand über Bielefeld verhängt. 1887 marschierte Infanterie gegen Bergleute bei Osnabrück auf, 1889 erschoss das Militär mehrere Arbeiter an der Ruhr, wo sich an der bis dahin größten Streikbewegung im Deutschen Reich über 100.000 Arbeiter beteiligten, die Achtstundentag und Arbeiterausschüsse forderten. Eine Arbeiterdelegation wurde von Kaiser Wilhelm II. mit den Worten bedroht, er werde „alles über den Haufen schießen lassen“, falls die Streikenden in Verbindung mit der SPD stünden.[4] Unter dem Kommando des späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg marschierten Ende 1909 Soldaten bei einem Streik im Mansfelder Gebiet auf.[5] Die offiziell hieß es zur Begründung solcher Einsätze stets, das Militär wolle sich keinesfalls in Arbeitskämpfe einmischen, sondern lediglich Produktionsanlagen und Streikbrecher vor Gewalttätern „schützen“.
Eine parlamentarische Kontrolle gab es weder für Militäreinsätze im In- noch im Ausland. Das Militärbudget wurde vom Reichstag beschlossen, aber dieses Kontrollmittel entschärfte er selbst, indem er es gleich für mehrere Jahre verabschiedete. Außerdem wurde die Zuständigkeit für das Militär weitgehend vom preußischen Kriegsminister auf den vom Kaiser kontrollierten Großen Generalstab übertragen. Damit gab es niemanden, der dem Reichstag Rede und Antwort stehen musste.
Polizeiaufgaben
Neben den eher außerordentlichen Anti-Streik-Einsätzen erfüllten Soldaten auch reguläre polizeiliche Aufgaben, solange die Polizei noch nicht flächendeckend aufgebaut war. Dazu gehörte Objektschutz, in Baden wurden beispielsweise die Paläste des Großherzogs, die Münzprägeanstalt, die Filialen der Reichsbank und auch Strafanstalten von Soldaten bewacht – also die Machtbasen der Obrigkeit (heute „kritische Infrastruktur“ genannt).
In Städten, die über eine Militärgarnison verfügten, wachten Soldaten im Rahmen des Garnisonswachdienstes über die Sicherheit der ganzen Stadt. Das war an sich nicht verfassungsgemäß, weil Soldaten nur zeitweise auf konkrete Anforderung der zivilen Behörden solche Aufgaben erledigen durften, es wurde aber aus Zweckmäßigkeitsgründen einfach gemacht. Auch das muss man bis heute bedenken, wenn man über den Stellenwert juristischer Regelungen redet. Je mehr allerdings die zivile Polizei aufgebaut wurde, desto mehr erschien den Zeitgenossen diese Form des militärischen Regiments „befremdlich“.[6]
Die damals geübte Kritik war, ähnlich wie heute, sachbezogen: Soldaten, vor allem Wehrpflichtige, seien für Polizeiaufgaben nicht ausreichend qualifiziert. Offenbar haben sie vor allem bei der Bekämpfung der Prostitution versagt, und generell ist ein übermäßig hartes Vorgehen beklagt worden.[7] Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist die sogenannte Zabern-Affäre Ende November 1913. In der elsässischen Stadt hatte ein Leutnant durch grobe Beleidigung elsässischer Rekruten heftige Proteste der Bevölkerung provoziert. Die Heeresgarnison besetzte daraufhin mehrere Tage lang gegen den Protest des Gemeinderates die Stadt und nahm Zivilisten fest. Dieses eigenmächtige Verhalten rief heftige Proteste in der Öffentlichkeit hervor. Der Kaiser bekräftigte daraufhin in einer „Allerhöchsten Dienstvorschrift über den Waffengebrauch des Militairs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen“ vom März 1914, das Militär dürfe außer zur Eigensicherung nur eingreifen, wenn die Polizeikräfte nicht ausreichten und die Zivilbehörden den Militäreinsatz anforderten.
„Vorbereitung zum Bürgerkrieg“
Völlig neuartig in der deutschen Geschichte war es, dass das Grundgesetz der BRD Inlandseinsätze komplett untersagte. Selbst nachdem 1956 die Bundeswehr aufgestellt wurde, bestimmte der damalige Artikel 143: „Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines inneren Notstandes in Anspruch zu nehmen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Artikel 79 erfüllt“, d. h. ein Gesetz, das seinerseits verfassungsändernd ist. Solange das fehlte, war jegliche obrigkeitliche Tätigkeit der Bundeswehr im Inland untersagt. Das zeugt vom damals herrschenden Misstrauen und der Furcht davor, das Militär könne zu einer Belastung „der demokratischen Entwicklung unseres Volkes werden“, wie der CDU-Abgeordnete Georg Kliesing im Oktober 1955 ausführte.[8]
Dennoch beauftragte der Hamburger Innensenator und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) während der Sturmflut im Jahr 1962 die Bundeswehr, gegen Plünderer vorzugehen und den Verkehr zu lenken. Schmidt erklärte später: „Wir waren damals durchaus in dem Bewusstsein, gegen Artikel 143 zu verstoßen“.[9] Dennoch gab es keine öffentliche Kritik.
Der Sprung zu den Regelungen, die heute noch gelten, geschah 1968. Im Rahmen der Notstandsgesetze beschloss die Große Koalition aus SPD und CDU/CSU eine Verfassungsänderung, die dem Militär Einsätze zur „Hilfe“ bei Katastrophen erlaubte.
Zu den heftigsten Kritikern gehörte damals der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Werner Kuhlmann, der vor dem Bundestags-Rechtsausschuss ausführte: „Die Gefahr steckt doch auch hier darin: Sobald es darum geht, Bundeswehreinheiten hoheitsrechtliche Aufgaben zu übertragen, taucht doch sofort die Frage der Bewaffnung auf […] Ich meine, wir sollten einen ganz klaren Trennstrich ziehen und dafür sorgen, dass in Fällen der Naturkatastrophen und bei schweren Unglücksfällen die Bundeswehr […] durchaus eingesetzt werden kann, aber nicht mit Waffen und ohne hoheitsrechtliche Aufgaben.“ Kuhlmann verwies auf die Gefahr der Gewöhnung. Je mehr Inlandseinsätze es gebe, desto größer werde die Missbrauchsmöglichkeit und die Gefahr, dass „unter dem Deckmantel der Legalität“ ein Staatsstreich unternommen werde. Deswegen müsse „jeder, auch jeder Soldat, […] zweifelsfrei wissen, dass Bundeswehreinheiten, die in innere Angelegenheiten eingreifen, die Verfassung brechen.“
Der Verfassungsrechtler Helmut Ridder warnte: „Die Zurüstung der Streitkräfte auf einen sogenannten Polizeieinsatz ist – wenn an den Repressiv-Polizeieinsatz gedacht ist – Vorbereitung zum Bürgerkrieg.“[10]
Befürchtungen, allzu weite Befugnisse der Bundeswehr könnten das „demokratische Kräftegleichgewicht“ stören, gab es bis hinein in die Regierungspartien. Daher wurden die Militärkompetenzen relativ eng gehalten.
Zentral an den neuen Regelungen, die heute noch gelten, ist der Artikel 87a des Grundgesetzes, der Inlandseinsätze sowohl im Krieg als auch im Frieden zulässt. Im Spannungs- und Verteidigungsfall – die hier nur kurz gestreift werden – können Soldaten zivile Objekte bewachen, „soweit“ dies zur Verteidigung notwendig ist. Wie auch schon im Kaiserreich und der Weimarer Republik soll das Militär bei Bedarf revolutionäre Bestrebungen niederschlagen (bei „Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Bundes“), jedoch nur subsidiär, d. h. wenn die Polizeikräfte nicht ausreichen (GG-Artikel 87a Absatz 3 und 4).
Ansonsten gilt kategorisch: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, sofern dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt“ (Artikel 87a, Absatz 2). Es genügt mithin kein einfaches Gesetz und schon gar nicht eine schlichte Regierungsverordnung, sondern es wird explizit eine Verfassungsregelung verlangt – ein „Ausdruck der Besorgnis, die Bundeswehr könnte als innenpolitisches Machtinstrument missbraucht werden.“[11]
Eine solche Genehmigung enthält Artikel 35 Absatz 2. Die Bundeswehr kann zur „Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall“ herangezogen werden und polizeiähnliche Maßnahmen durchführen, soweit es zur Erfüllung dieser Hilfe notwendig ist. Denkbar ist also, dass Soldaten den Verkehr lenken, Straßen absperren oder Platzverweise aussprechen, um Hilfsmaterial rasch ans Ziel bringen zu können – sofern die Polizei dazu nicht in der Lage ist (subsidiär). Ein Vorgehen gegen Plünderer wäre hiervon nicht gedeckt, außer wenn es unmittelbar darauf gerichtet ist, die Hilfe durchzuführen.[12] Erforderlich ist in der Regel ein Hilfeersuchen des Bundeslandes, das, anders als im Kaiserreich, das Oberkommando behält. Rechtlich möglich, aber bisher nicht erfolgt, ist ein vom Bund angeordneter Einsatz, wenn mehrere Bundesländer gleichzeitig betroffen sind.
Die in Artikel 35 Absatz 1 vorgesehene Amtshilfe, d. h. die technische und logistische Unterstützung anderer Behörden, verleiht der Bundeswehr hingegen keine polizeilichen Befugnisse.
Bundeswehr im Innern
Anfang der 1990er Jahre hat die Bundeswehr mit den Auslandseinsätzen begonnen, und für Schäuble ist der Inlandseinsatz die logische Konsequenz. Ende 1993 stellte er in einem Brief an die CDU-Mitglieder die rhetorische Frage, „ob die Bundeswehr nicht unter streng zu definierenden Voraussetzungen auch bei größeren Sicherheitsbedrohungen im Innern – wie die Armeen aller anderen zivilisierten Staaten – notfalls zur Verfügung stehen sollte“[13]; er dachte dabei an Castor-Transporte, Chaos-Tage und die Abwehr von Flüchtlingen.
Damals sind die Argumente entwickelt worden, die heute gang und gäbe sind: „Zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit“, sagte der damalige Verteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) am 14. Januar 1994 im Bundestag, und Johannes Gerster, Fraktions-Vize der Union, meinte, die Bundeswehr müsse das „Überschwappen“ von Kriminellen und Terroristen verhindern. Konsensfähig war das damals noch nicht. Selbst in der Union gingen viele auf Distanz, und Rudolf Scharping von der SPD, der spätere Verteidigungsminister, verglich die Schäuble-Vorstellungen mit dem spanischen Franco-Regime. Doch Schäuble hatte sein Thema gefunden und prophezeite: „Das Thema wird so lange auf der Tagesordnung bleiben, bis es in dem Sinne gelöst wird, den ich vorgeschlagen habe.“[14]
Schon der Begriff „Krieg gegen den Terrorismus“ als solcher zeigt eine ungeheure Ausdehnung des Bereichs, für den Militär zuständig sein soll. Terrorismusbekämpfung ist klassischerweise eine Aufgabe der Polizei und nicht des Militärs, und sie wird mit den Vorgaben der Polizeigesetze und der Strafprozessordnung erfüllt; dabei gelten, jedenfalls rechtstheoretisch, die Unschuldsvermutung, das Verhältnismäßigkeitsgebot usw. Einen „Krieg“ hingegen führt normalerweise eine Armee gegen eine andere Armee oder gegen Aufständische.
Doch solche Trennungen sollen nicht mehr gelten. Die Trennung zwischen Militär und Polizei, zwischen innerer und äußerer Sicherheit, auch die zwischen Polizei und Geheimdiensten – all das wird mit Hilfe des neu eingeführten Stichworts von der Vernetzten Sicherheit über den Haufen geworfen. Dieser Schlüsselbegriff taucht mittlerweile in praktisch allen strategischen Papieren auf und soll dazu dienen, die Aufrüstung der Staatsmacht zu legitimieren. Gemeint ist damit: Sicherheit zu gewährleisten ist nicht Sache voneinander strikt genannter Institutionen, sondern eine gesamtgesellschaftliche, ja globalisierte Aufgabe, die ressortübergreifend, also unter Inanspruchnahme sowohl militärischer als auch ziviler Mittel, erfüllt werden muss. Das schließt es aus, Staats- oder andere Grenzen als Zuständigkeitsgrenzen zu akzeptieren.
Im Weißbuch der Bundeswehr heißt es unter Vernetzte Sicherheit: Sicherheit könne „weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden. Erforderlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz […] in vernetzten sicherheitspolitischen Strukturen“. Diese Strukturen umfassen, so heißt es weiter, „neben den klassischen Feldern der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik unter anderem die Bereiche Wirtschaft, Umwelt, Finanz-, Bildungs- und Sozialpolitik.“ Man kann das kürzer ausdrücken: Praktisch alle Politikbereiche, alle Ressorts sollen ihren Beitrag zur Sicherheit leisten und dabei mit dem Militär kooperieren. So wie es in Kriegszeiten immer schon war.
Von der Verteidigung zum Schutz
Was auffällt, ist zunächst, dass der Begriff „Sicherheit“ ganz offensichtlich den Begriff der Verteidigung abgelöst hat. Das Weißbuch bestätigt eindrücklich, dass es um Verteidigung gar nicht mehr geht; es wirft implizit all jenen, die das Militär auf Territorialverteidigung reduziert wissen wollen, vor, nicht die aktuellen Erfordernisse zu verstehen.
Eine der Zeitschriften, in der diese Erfordernisse erklärt, um nicht zu sagen, geschaffen werden, ist die ´Europäische Sicherheit´. Sie ist ein halboffizielles Blatt, das qua Impressum mit der bundeswehreigenen Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) kooperiert und in dem regelmäßig hochrangige Ministeriumsvertreter schreiben. Diese Monatszeitschrift hat sich zur Aufgabe gestellt, „unsere Sicherheitspolitik, die nicht allein als Verteidigung mit Streitkräften zu verstehen ist, in sämtlichen komplexen und komplizierten Zusammenhängen zu beschreiben.“ Sicherheitspolitik ist nicht allein Verteidigung mit Streitkräften, sondern eben eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das muss geradezu darauf hinauslaufen, der Bundeswehr ein Mitspracherecht in ausnahmslos allen gesellschaftlichen Bereichen zu geben.
In der August-Ausgabe 2007 hat ein Angehöriger der BW-Akademie für Information und Kommunikation (AIK) einen Artikel publiziert, der schon fast idealtypisch zusammenfasst, was denn die neuen Aufgaben und der neue Stellenwert der Bundeswehr sein solle. (Es sei kurz darauf hingewiesen, dass das AIK die Nachfolgerin der Akademie für Psychologische Verteidigung ist. Dementsprechend ist ihre wichtigste Aufgabe, in der Bevölkerung „Informationsarbeit“ zu leisten, sprich: Begründungen für die Militärpolitik zu liefern.)
Der Autor Stephan Böckenförde spricht von einem „Sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel von Verteidigung zu Schutz.“ Er bestätigt, dass die Gefahren heute nicht mehr in einer möglichen Verletzung der Staatsgrenzen durch einen militärischen Gegner bestehen. Stattdessen hätten wir es mit neuen Gegnern zu tun, die sich die „Verletzlichkeit“ unserer technisierten und globalisierten Gesellschaft zunutze machen wollten.
Aus diesem Denkansatz ergeben sich folgende Konsequenzen: Erstens gibt es keine festgelegten bzw. begrenzenden Orte mehr – Landesgrenzen sind irrelevant. Vielmehr sollen „Bedrohungen“ dort bekämpft werden, wo sie vermutet werden oder wo sie entstehen könnten. Hierzu hat BAKS-Präsident Rudolf Adam in einer Rede ausgeführt: „Deutschland ist aufgrund seiner intensiven internationalen Verflechtungen verwundbarer als die meisten anderen Länder vergleichbarer Größe. Wer Deutschland verwunden will, muss nicht in Deutschland selbst zuschlagen. Es sind nicht nur Botschaften – wie in Stockholm – deutsche Soldaten; deutsche Investitionen, deutsche Touristen – wie in Algerien, deutsche Facharbeiter – wie neulich im Irak – können Ziel von Anschlägen werden. Verkehrsrouten können blockiert, Flugzeuge entführt werden. Und der Zugang zu lebenswichtigen Rohstoffen – wie etwa Erdöl oder Erdgas – kann wegbrechen, weil Produzenten nicht mehr lieferfähig oder lieferwillig sind.“[15] So flexibel und grenzenlos wie die Gefahren soll dann auch die deutsche Sicherheitspolitik sein. So wird die Hälfte aller Schifffahrtsrouten zum konkreten und die ganze Welt zum potentiellen Einsatzgebiet erklärt.
Zweitens gibt es keine festgelegten Zeiten mehr. „Es geht längst nicht mehr darum, punktuell auf Krisen zu reagieren. Wir müssen langfristig Krisenprävention und Krisennachsorge betreiben“, erklärt der Akademiechef Adam. Böckenförde, der all das teilt, beklagt sich: Gewaltmaßnahmen seien leider „höchst umstritten, was die Frage der militärischen Prävention so schwierig macht“.
Keine Orte, keine Zeiten und drittens auch keinen klaren Gegner:[16] Es geht nicht darum, wer an der Landesgrenze eine Bedrohung darstellen könnte, sondern wer mit welchen Fähigkeiten schädliche Wirkungen anrichten könne. Paradebeispiel ist wiederum der 11. September. Auch hier gibt es deutliche Parallelen zu innenpolitischen Debatten, man denke an den Besuch von „Terrorcamps“, wo keineswegs konkrete Anschläge vorbereitet, aber Kenntnisse erlangt werden, die potentiell zur Bedrohung werden könnten. Ins Blickfeld soll aber schlechthin jede nur denkbare Bedrohung fallen: Reduziert man sich ausschließlich auf den „Schutz vor“ und die „Wirkung von Gefährdungen“ – also egal, was man eigentlich über denjenigen weiß, von dem sie (vielleicht) ausgehen – dann, so Böckenförde, „öffnet sich der Blick für die Bedrohungen allgemein bis hin zu Natur- und Umweltkatastrophen.“
Wer für all diese Bedrohungen verantwortlich sein könnte – wer weiß. Böckenförde spricht von einem neuen Sicherheitsbewusstsein, dass auch solche Bedrohungen beinhaltet, die „indirekt, mittelbar durch Folgeeffekte und zeitverzögert eine Bedrohung für die eigene Sicherheit darstellen könnten.“ Das klingt ungefähr genauso allgemein wie die Vorschriften, wer alles in der Anti-Terror-Datei zu speichern sei. Im Zweifel herrscht der Generalverdacht.
Insgesamt, so Böckenförde, müsste ein „funktionales Denken“ in der Sicherheitspolitik Einzug halten. „Funktional“ muss hier als Gegensatz zu „rechtlich begrenzt“ gelesen werden. Und selbstverständlich sei es vor dem Hintergrund all der diffusen Bedrohungen „sicherheitspolitisch unsinnig, die Streitkräfte exklusiv von der Erfüllung bestimmter Aufgaben“ im Inneren fernzuhalten.
Heimatschutz
In dieser Logik liegt das von der Union geforderte „Gesamtkonzept Sicherheit“. Ein Beschluss der CDU/CSU—Fraktion vom März 2004 sieht „eine starke Heimatschutzkomponente“ aus 25.000 Soldaten vor, als Teil der „Vorsorge gegen asymmetrische und terroristische Bedrohungen“. Die Union will dafür bis zu 50 „Regionalbasen“ mit jeweils bis zu 500 Soldaten bereithalten, die mit Reservisten auf bis zu 5000 Soldaten „aufwachsen“ können.
Als Aufgaben dieser Heimatschutzverbände nennt das Fraktionspapier unter anderem die „Bereitstellung personeller Ressourcen für Bewachung, Kontrolle und Sicherung im Fall besonderer Gefahrenlagen“ und „im Rahmen der Abschreckung die Bewachung von Liegenschaften und kritischer Infrastruktur“, also klassische Polizeiaufgaben.
Der Begriff „kritische Infrastruktur“ umfasst alles, was den Kapitalismus ausmacht: Kraftwerke, Banken, Kommunikationsanlagen, Verkehrswege, Staudämme usw. Im Ausland schießt die Bundeswehr den Zugang zu Ressourcen frei, und im Inland stellt sie sich vor die Einrichtungen, die zur Profit bringenden Verarbeitung dieser Ressourcen notwendig sind. Die Union argumentiert, dies seien „allesamt Fähigkeiten, die die Bundeswehr im Spannungs- und Verteidigungsfall in großem Umfang leisten müsste“ und im Ausland tatsächlich schon leiste. Wer darauf beharrt, es mache einen Unterschied, ob nach Besatzungsrecht serbische Klöster im Kosovo bewacht werden oder mitten im Frieden der Hauptbahnhof in Berlin, dem ruft die Union entgegen: „Es muss endlich Schluss sein mit ideologischen Blockaden“.
Einige der Unions-Forderungen sind bereits umgesetzt: in Form der sogenannten Zivil-Militärischen Zusammenarbeit/Inland (ZMZ/I), die Teil des „Heimatschutzes“ ist.
Es werden zwar nicht 25.000 Heimatschützer aufgestellt, aber im vorigen Jahr sind Dienstposten für immerhin 5500 Reservisten geschaffen worden. Die Bundeswehr hat sich an die zivilen Verwaltungsstrukturen angeglichen und das ganze Land mit Kommandos überzogen. Auf der unteren Ebene – Landkreise und kreisfreie Städte – agieren 426 Kreisverbindungskommandos, in den Regierungsbezirken 31 Bezirksverbindungskommandos. Sie bestehen aus jeweils 12 Reservisten (angestrebt: vier Stabsoffiziere, drei Offiziere und drei Feldwebel), an ihrer Spitze jeweils ein „Beauftragter der Bundeswehr für ZMZ“. Dieser hat die Aufgabe, bereits im „Grundbetrieb“ den engen Kontakt mit den örtlichen zivilen Katastrophenschutzstäben zu pflegen und ein Büro in der entsprechenden Behörde (Rathaus, Landratsamt, Regierungspräsidium) zu beziehen. Bei Bedarf werden dann die anderen elf Reservisten aktiviert. Sie werden unterstützt durch 32 mobile Regionale Planungs- und Unterstützungstrupps, die zu Beginn von Einsätzen eine Art Starthilfe leisten sollen.
Auf Landesebene sind Landeskommandos in den Hauptstädten der 16 Bundesländer installiert worden, in denen bis zu 90 Soldaten arbeiten. Die Oberhoheit hat das Streitkräfteunterstützungskommando in Köln. Bis zum Jahr 2010 sollen noch 16 ZMZ-Stützpunkte mit besonderen Kapazitäten in den Bereichen Pionierwesen, Sanitätsdienst und ABC-Abwehr hinzukommen, wofür weitere 5000 Reservistendienstposten vorgesehen sind.
Bundesweite Militär-Zivil-Kommandos
Diese Entwicklung läuft auf einen zentralisierten Katastrophenschutz-Apparat unter militärischem Oberkommando hinaus. „Führung aus einer Hand durch die erprobte Struktur der Bundeswehr“ fordert das Konzept der Unionsfraktion. Der erste Schritt zur Zentralisierung ist bereits mit dem vor drei Jahren gegründeten Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) erfolgt, das zur zentralen Regulierungsstelle werden soll.[17] Es arbeitet eng mit der Bundeswehr zusammen, in seiner Vierteljahreszeitschrift „Homeland Security“ räsonieren regelmäßig Generäle über „Sicherheits“-Fragen und Grundgesetzänderungen. Das Amt bietet gemeinsame Schulungen für ziviles und militärisches Personal und führt die länderübergreifende Katastrophenschutzübungen LÜKEX durch. Im vorigen November wurde eine Grippe-Pandemie simuliert. Diese Übung, so freute sich Schäuble in der abschließenden Presseerklärung, sei ein wichtiger „Beitrag zur Weiterentwicklung der gesamtstaatlichen Schutzmaßnahmen“ gewesen, natürlich unter Beteiligung der ZMZ-Kommandos.
Die Länder treiben die Militarisierung des Katastrophenschutzes voran. Dabei droht die Subsidiarität auf der Strecke zu bleiben. Denn wenn die Bundeswehr permanent in die Arbeit der Zivilbehörden eingebunden ist, steigt unwillkürlich ihr Einfluss. Zivilbehörden neigen bereits jetzt dazu – schon aus Kostengründen – sich zu sehr aufs Militär zu verlassen. Im Bericht eines Arbeitskreises der Innenministerkonferenz vom April 2005 wird gefordert, die Bundeswehr solle ihr gesamtes Potential „für den Schutz der eigenen Bevölkerung im Inland“ einsetzen, und zwar dauerhaft und eigenverantwortlich. Und die Bundesrats-AG „Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung“ forderte im März 2006, zwecks „Planungssicherheit“ dürfe die Unterstützung des Heimatschutzes „nicht nur ‚subsidiär’ erfolgen, sie muss vielmehr zu einer originären Aufgabe der Bundeswehr werden.“
Nun nutzt die Bundeswehr gerne die Möglichkeit zum Imagegewinn, wenn sie sich als professioneller Akteur auf allen Ebenen in Szene setzen kann. Doch derart festlegen wie von den Ländern gefordert will sie sich nicht und erklärt: Für Katastrophenschutz im Inland stehen nur jene Kapazitäten zur Verfügung, „die nicht im Auslandseinsatz gebunden sind.“ Das zeigt, wie riskant der Kurs der Bundesländer ist, beim Katastrophenschutz aufs Militär zu bauen und die warnenden Stimmen aus Feuerwehr und anderen Hilfsorganisationen zu ignorieren.
„Lineare Eskalation“ zum Staatsnotstand
Dass Katastrophenschutzleistungen das Ende der Fahnenstange sein werden, sollte man nicht annehmen. Die ZMZ-Beauftragten der Bundeswehr erhalten regelmäßige Fortbildungen an der Schule für Feldjäger und Stabsdienst der Bundeswehr, unter anderem im Bereich „Alarmierung und Mobilmachung“. Es werden jetzt Strukturen geschaffen, die ausbaufähig sind, um von Hilfseinsätzen zur Repression überzugehen – ähnlich wie bei den Auslandseinsätzen, die mit vorgeschobenen „Hilfs“-Argumenten begannen und bald schon in völkerrechtswidrige Angriffskriege umschlugen.
Der eigentliche Sinn von Grundgesetz-Artikel 87a war, das Einnisten des Militärs in zivile Strukturen zu verhindern. Aber diese alten Regelungen entsprechen offenbar nicht mehr den Bedürfnissen eines Krieg führenden Staates. Wohin die Reise beim Heimatschutz geht, wird vom ehemaligen Bundeswehrjuristen Roman Schmidt-Radefeldt in den „Unterrichtsblättern für die Bundeswehrverwaltung“ folgendermaßen beschrieben: Das Konzept umfasse „einen Schnittmengenbereich zwischen militärischer Verteidigung, zivilem Katastrophenschutz, polizeilicher Gefahrenabwehr und – in einer linearen Eskalation – dem inneren Staatsnotstand.“[18]
Geht es nach Schäuble und Jung, dann wird dieser Staatsnotstand künftig infolge von Terroranschlägen erklärt. Die Union will den Verteidigungsfall in der Verfassung neu definieren. Das Vorhaben geht zurück auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das im Februar 2006 das Luftsicherheitsgesetz verworfen hatte, weil der Abschuss eines „verdächtigen“ Zivilflugzeuges die Menschenwürde der Passagiere verletzen würde. Das will die Union mit der Änderung des Artikel 87a Grundgesetz ändern: Nicht mehr nur bei einem kriegerischen Angriff, sondern bereits bei „sonstigen Angriffen auf die Grundlagen des Gemeinwesens“ soll der Verteidigungsfall erklärt werden. In diesem Zusammenhang hat Schäuble von einem „Quasi-Verteidigungsfall“ gesprochen[19]. Dieser erlaubt es seiner Logik nach, auch Zivilisten gezielt zu töten. Wie sehr „funktionales“ Denken darauf hinausläuft, zentrale Grundwerte in Frage zu stellen, zeigt Schäubles Behauptung: „Ob völkerrechtlicher Angriff oder innerstaatliches Verbrechen, ob Kombattant oder Krimineller, ob Krieg oder Frieden: Die überkommenen Begriffe verlieren ihre Trennschärfe und damit ihre Relevanz.“[20] Da ist es nur konsequent, dass Kriegsminister Jung im vorigen September ankündigte, im Zweifelsfall auch ohne Rechtsgrundlage seinen „Alarmrotten“ den Abschussbefehl zu erteilen.
Der SPD gehen diese Notstandspläne zu weit. Sie möchte es lieber dabei belassen, das polizeiliche Instrumentarium um militärische Komponenten zu erweitern. Der Hebel soll eine Änderung der Katastrophenhilfe-Bestimmungen des Artikel 35 sein, welcher der Bundeswehr künftig den Einsatz spezifisch militärischer Mittel – also etwa Jagdflugzeuge – erlauben soll. Das wäre ein kleinerer Schritt, aber in die gleiche Richtung.
Amtshilfe und Einsatz
Eine Ahnung vom anvisierten Staatsnotstand vermittelte der Polizei- und Bundeswehreinsatz in Heiligendamm. Wie im „kleinen Belagerungszustand“ des Kaiserreiches waren Grundrechte ausgesetzt und die Bundeswehr nahm teils direkte, teils indirekte Polizeimaßnahmen wahr. Die Regierung beharrt indes darauf, die Truppe habe nur technisch-logistische Amtshilfe geleistet, aber keinen „Einsatz“ im Sinne des Artikel 87a. Damit steht die Frage im Raum: Was eigentlich unterscheidet einen „Einsatz“ von „Amtshilfe“? Im Grundgesetz fehlen Definitionen, aber es gibt wichtige Hinweise in der Fachliteratur.
Die meisten Juristen unterscheiden zwischen einer so genannten „schlichten Verwendung“ (Amtshilfe) und dem Ausüben einer „obrigkeitlichen“ Tätigkeit (Einsatz). Sobald Soldaten Aufgaben erfüllen, die sonst Polizisten vorbehalten sind, sie also gegenüber zivilen Bürgern Zwang anwenden, leisten sie einen Einsatz. Sandsäcke zum Deich bringen ist eine „schlichte Verwendung“, werden jedoch Passanten daran gehindert, den Deich zu betreten, handelt es sich um einen Einsatz. Oder: Aufklärungstornados nach vermissten Kindern suchen zu lassen, ist erlaubt, die Beteiligung der Bundeswehr an der Suche nach Straftätern aber nicht, weil Festnahmen nur die Polizei vornehmen darf.[21]
Nicht nur, wenn die Bundeswehr selbst in Bürgerrechte eingreift, ist sie im Einsatz, sondern bereits dann, wenn sie die Polizei in einer Form unterstützt, die es dieser erst möglich macht, obrigkeitlich zu handeln.
Diese Einsicht ist nicht neu. Bereits in den 80er Jahren lösten Berichte über ein „Amtshilfeabkommen“ zwischen Bundeswehr und bayerischer Polizei betreffend der Demonstrationen an der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf heftige Kritik aus. Die Völkerrechtler Ralf Jahn und Norbert K. Riedel hielten fest: „Eindeutig Einsatzqualität besitzt die Zurverfügungsstellung von militärischem Gerät einschließlich der sie bedienenden Soldaten, wie z. B. Aufklärungsflüge von Bundeswehrhubschraubern bei Demonstrationen. Hier wird militärisches ‚know-how‘ in Anspruch genommen, das seinem Zweck nach innenpolitisch nicht neutral ist.“[22] Auch in der Zeitschrift „Bundeswehrverwaltung“ ist damals die Unterstützung „durch militärtypische Mittel, wie z. B. Hubschrauber, Mannschaftswagen, Spezialfahrzeuge usw.“ für verfassungswidrig erklärt worden. Die Bundeswehr müsse sich aus inneren Konflikten heraushalten, um nicht „die von ihr erwartete innenpolitische Neutralität dem ganzen Volk gegenüber“ zu verlieren.[23]
In einer neueren Arbeit bestätigt der Jurist Jan-Peter Fiebig, ein Einsatz sei „gegeben, wenn Soldaten Fahrzeuge, insbesondere Luftfahrzeuge, der Streitkräfte […] zur optischen Überwachung von Großveranstaltungen und deren Umgebung verwenden und etwaige Aufklärungsergebnisse an die für unmittelbar obrigkeitliches Vorgehen vorgesehenen“ Polizeistellen weitergeben.[24]
Das lässt sich mühelos auf den G8-Gipfel übertragen. 14mal stiegen die Aufklärungs-Tornados auf, die Polizei konnte sich aus dem Bildmaterial frei bedienen und hat nach offiziellen Angaben 101 Bilder mitgenommen, die meisten von den Protestcamps. Neun Spähpanzer „Fennek“ überwachten vor allem nachts mögliche Anfahrtsrouten von Demonstranten und machten bei Verdacht sofort die Polizei aufmerksam. Das macht die Bundeswehr-Tätigkeiten zum Einsatz, für den es – mangels einer Katastrophe – keine Verfassungsgrundlage gab.
Hinzu kommt der Aspekt des so genannten „show of force“, also der demonstrativen Präsenz des Militärs. Wenn Soldaten in großen Gruppen auftreten, ist aus Bürgersicht „kein anderer Schluss möglich, als derjenige, dass diese Soldaten dort als Ordnungskräfte eingesetzt sind und zur Aufrechterhaltung der Ordnung […] notfalls Gewalt und eben auch Waffengewalt anwenden werden“, schreibt Fiebig. Das stelle „aufgrund des Eindrucks, der bei den Anwesenden erzeugt wird“, die „Ausübung von Zwang“ dar.[25]
Ein Blick zurück auf Heiligendamm: Bis zu 640 Feldjäger mit Pistolen oder dem Maschinengewehr G36 waren in der ganzen Region unterwegs, mehrfach in der Nähe der Protestcamps. Dass sich Demonstranten hiervon nichts Gutes versprachen und annehmen mussten, die Feldjäger würden einschreiten, wenn man – trotz Demonstrationsverbot – demonstrieren ginge, liegt auf der Hand, weswegen auch hier ein verfassungswidriger „Einsatz“ vorliegt.
Reaktion rüstet sich
Tatsächlich nehmen, wie von der Union behauptet, Soldaten im Ausland bereits Polizeiaufgaben wahr. Feldjägereinheiten üben beharrlich „Crowd and Riot Control“, sprich Aufstandsbekämpfung bzw. die Niederschlagung von Demonstrationen. Dazu erhalten sie auch die entsprechende Ausrüstung – Abwehrschilde, Pfefferspray. In Afghanistan sind Feldjäger gar als Ausbilder für afghanische Polizisten tätig.
Den umgekehrten Weg gibt es auch: Polizisten verstärkt in Kriegs- und Krisengebiete zu schicken. Die EU hat schon vor Langem die Schaffung eines 5000 Mann starken gemeinsamen Pools aus Polizeibeamten beschlossen, aus dem bei Bedarf rekrutiert wird, um militärische Einsätze zu flankieren. Parallel dazu wurde die European Gendarmerie Force gegründet, ein Verbund aus paramilitärischen Einheiten, der explizit solche Operationen durchführt, die irgendwo zwischen Kriegs- und Polizeieinsätzen liegen. Deutsche Polizisten beschränken sich bislang noch überwiegend darauf, Ausbildungsmaßnahmen und sonstige, beratende Tätigkeiten auszuführen, aber auch dabei zeichnen sich Änderungen ab. Die Bundespolizei baut Hundertschaften für Auslandseinsätze auf, der Chef der Gewerkschaft der Polizei hat angeregt, dafür auch schwere MGs anzuschaffen, und in der Bundesregierung wird überlegt, Bundespolizisten künftig zum Auslandseinsatz verpflichten zu können, statt wie bisher nur auf Freiwillige setzen zu müssen.
Seit mindestens fünf Jahren stellt die deutsche Militärdoktrin Inlandseinsätze in Aussicht – „im Rahmen der geltenden Gesetze“, den die Regierungsparteien erweitern wollen. Bis sie soweit sind, laborieren Innen- und Verteidigungsminister am Rand der Verfassung bzw. übertreten ihn, wie in Heiligendamm. Gleichzeitig ist in den letzten Jahren ein rasanter Anstieg der „Amtshilfeleistungen“ zu verzeichnen: Von einem pro Jahr auf zehn, wie die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Ulla Jelpke (LINKE) mitteilte.[26] Wenn auch die parlamentarische Kontrolle heute besser ausgeprägt ist als im Kaiserreich und der Weimarer Republik, effektiv kann man sie kaum nennen. Beim G8-Gipfel wurde der Bundestag nach Strich und Faden getäuscht, und „Amtshilfe“-Einsätze sind weder zustimmungs- noch berichtspflichtig.
Wozu das Ganze? Bangen die Herrschenden tatsächlich um ihre Macht?
Die Frage ist müßig. Als 1968 die Notstandsgesetze eingeführt wurden, sprachen die Konservativen ständig von möglichen Aufständen und Revolutionen. Sie gaben zu, dass es keinerlei Anzeichen dafür gebe, aber man könne ja nie wissen und müsse stets vorbereitet sein. Auch heute ist eine Revolution nicht in Sicht, doch die Hetztiraden, denen wochenlang die Lokführer der GDL ausgesetzt waren, erinnern daran, dass Militäreinsätze in Deutschland immer schon im Dienste der Reaktion standen.
Die Linken hatten 1968 vor allem Sorge vor einem möglichen Putsch der Bundeswehr. Heute geht die größte Gefahr für die Demokratie wohl von Regierungspolitikern aus, die bei jeder Gelegenheit zentrale Grundrechte in Frage stellen und sich auf eine Generalität stützen können, die Befehle völlig kritiklos ausführt.
Schließlich sei die Bundeskanzlerin zitiert, die einige Monate vor ihrem Amtsantritt, auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2005, klare Worte gesagt hat:
„Die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen zunehmend. Internationale Einsätze unter Beteiligung Deutschlands und Heimatschutz sowie Einsatz der Bundeswehr im Innern sind deshalb zwei Seiten ein und derselben Medaille.“
Anmerkungen
[1] Wolfgang Grubert, Verteidigungsfremde Verwendungen der Streitkräfte in Deutschland seit dem Kaiserreich außerhalb des inneren Notstandes, Frankfurt am Main 1997, S. 133.
[2] Grubert, S. 56.
[3] Pannkoke, Jörg: Der Einsatz des Militärs im Landesinnern in der neueren deutschen Verfassungsgeschichte, Münster 1998, S. 64f.
[4] Vorangegangene Zahlen und Zitate: Peter Bachmann/Kurt Zeisler, Der deutsche Militarismus vom 17. Jahrhundert bis 1917. Illustrierte Geschichte, Köln 1986, S. 296ff.
[5] Grubert, S. 77.
[6] Grubert, S. 75.
[7] Beleg z. B. bei Grubert, S. 75.
[8] Bundestagssitzung vom 2 Oktober 1955.
[9] Bundestagssitzung vom 16. 5 1968.
[10] Kuhlmann: Protokoll des Notstandshearings am 30. 11. 1967, Ridder: Hearing vom 9. 11. 1967.
[11] Pannkoke, S. 201.
[12] Zahlreiche Belege, z. B.: Erwin Beckert, Die hoheitlichen Befugnisse der Bundeswehr, in: Bundeswehrverwaltung, Oktober 1983.
[13] Zit. nach Pannkoke, S. 256.
[14] Süddeutsche Zeitung, 14. 1. 1996.
[15] Vortrag am 29. 11. 2006. www.baks.bundeswehr.de.
[16] Ausführlicher hierzu: Christoph Marischka: Rüsten für den globalen Bürgerkrieg, AUSDRUCK – Das IMI-Magazin (Oktober 2007).
[17] Antwort auf eine Anfrage der FDP, Bundestagsdrucksache 16/6867.
[18] Roman Schmidt-Radefeldt, Innere Sicherheit durch Streitkräfte, in: Unterrichtsblätter für die Bundeswehrverwaltung, 5/2006.
[19] Süddeutsche Zeitung, 1. 1.2007.
[20] Tagesspiegel, 5. Januar 2007.
[21] Wolfgang Speth: Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr unter besondere Berücksichtigung sekundärer Verwendungen, München 1985, S. 188.
[22] Die Öffentliche Verwaltung, November 1988. Weitere Belege für diese Rechtsauffassung u. a. in der Neuen Zeitschrift für Wehrrecht, 1973, S. 2-13.
[23] Erwin Beckert, Bundeswehr und Polizei, Bundeswehrverwaltung, Juli 1986.
[24] Jan-Peter Fiebig, Der Einsatz der Bundeswehr im Innern, Berlin 2004, S. 192.
[25] Fiebig, S. 178f.
[26] Bundestagsdrucksache 16/6159.
Frank Brendle
(Der Beitrag erschien in veränderter Fassung in junge welt 24./25.1.2008)
Quelle: http://www.imi-online.de