HAMBURG/TÜBINGEN – Eine Dozentin der Bundeswehr-Führungsakademie sieht das Friedensgebot der deutschen Verfassung ausgehebelt. Wie die Politologin Sabine Jaberg in einer aktuellen Publikation schreibt, sei mittlerweile „genau das eingetreten“, was die Urheber des Grundgesetzes „hätten verhindern wollen“: „Streitkräfte dienen wieder als Mittel der Politik“ – als „Instrument blanker Interessenpolitik“ und „im Dauereinsatz“. Jabergs Aufsatz findet sich in einem von Tübinger Wissenschaftlern herausgegebenen Sammelband, der sich mit der an zahlreichen deutschen Hochschulen erhobenen Forderung nach Implementierung sogenannter Zivilklauseln auseinandersetzt. Die damit gemeinte Selbstverpflichtung von Universitäten auf ausschließlich „friedliche Zwecke“ wird allerdings von etlichen Autoren des Buches in ihr Gegenteil verkehrt. Diese reden offen „legitimen Formen der Gewaltanwendung“ das Wort und sehen in dem von der NATO zwecks Unterstützung einer Bürgerkriegspartei gegen die libysche Regierung geführten Krieg einen „schulmäßigen Fall der Anwendung von Schutzverantwortung“. Gleichzeitig mehren sich die Stimmen, die der Universität Tübingen Verstöße gegen ihre eigene „Zivilklausel“ vorwerfen. Wie die Historikerin Irma Kreiten im Gespräch mit dieser Redaktion berichtet, habe das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr Arbeiten aus einem „Sonderforschungsbereich“ der Universität für Zwecke der deutschen Streitkräfte genutzt.
Verfassungswidrig
Laut Sabine Jaberg, Dozentin für Politologie an der Führungsakademie der Bundeswehr, verstößt der aktuelle „Dauereinsatz“ der Bundeswehr gegen das Friedensgebot der deutschen Verfassung. Das „Tabu, Streitkräfte als Instrument blanker Interessenpolitik einzusetzen“, sei „längst gebrochen“; damit sei „genau das eingetreten, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten verhindern wollen“, erklärt die Wissenschaftlerin. Ihre aus dieser Feststellung gezogene Schlussfolgerung konstatiert die Suspendierung konstitutiver Elemente der Verfassung: „Wenn unter dem Schirm der grundgesetzlichen Friedensnorm aber nahezu alles erlaubt und kaum etwas verboten scheint, dann hat sie ihre Funktion als Richtschnur für politisches Handeln weitgehend eingebüßt.“[1]
Freibrief zum Kriegführen
Scharfe Kritik übt Jaberg nicht zuletzt an den sogenannten Out-of-Area-Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Wer wie das höchste deutsche Justizorgan der politisch-militärischen Führung gestatte, „Krisenreaktionseinsätze“ auch „unabhängig von einem äußeren Angriff“ zu befehlen, stelle dieser einen „Freibrief“ aus, moniert die Wissenschaftlerin. Scharf wendet sie sich außerdem gegen die von wechselnden Bundesregierungen verabschiedeten militärpolitischen Grundsätze. Mit der unter anderem in den „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ enthaltenen Formulierung, mit Hilfe von Streitkräften „nationale Interessen“ und „internationalen Einfluss“ wahren zu wollen, öffne man „dem Einsatz der Bundeswehr zu beliebigen Zwecken Tür und Tor“ – etwa zur Sicherung der „Rohstoff- und Warenströme“ im Rahmen der „Pirateriebekämpfung“. Mittlerweile, schreibt Jaberg, könne nicht einmal mehr als unumstößlich gelten, dass Deutschland sich nicht an „Angriffskriegen beziehungsweise anderen völkerrechtswidrigen Gewaltakten“ beteilige. Als Beispiel hierfür nennt sie den 1999 erfolgten Angriff der Bundeswehr und weiterer NATO-Truppen auf die Bundesrepublik Jugoslawien.[2]
Normativer Standard
Jabergs frappierend offene Äußerungen finden sich in einem von Tübinger Wissenschaftlern herausgegebenen Sammelband, der sich mit der an zahlreichen deutschen Hochschulen erhobenen Forderung nach Implementierung sogenannter Zivilklauseln auseinandersetzt. Die damit gemeinte Selbstverpflichtung von Universitäten auf ausschließlich „friedliche Zwecke“ wird allerdings von etlichen Autoren des Buches in ihr Gegenteil verkehrt. So feiert etwa der Frankfurter „Friedensforscher“ Harald Müller die Vorstellung einer sich über den gesamten Globus erstreckenden „Schutzverantwortung“ des Westens als „revolutionäre Konzeptualisierung des Sicherheitsgedankens“, mit der „die Jahre einer unumschränkten Vorherrschaft absoluter Souveränität über die ‚Subjekte‘ in einem staatlichen Territorium gezählt“ seien: „Nicht die staatliche Sicherheit, sondern die des einzelnen Menschen sollte normativer Standard der Sicherheitspolitik sein.“ Es sei mittlerweile „grundsätzlich anerkannt“, dass die „Nichtinterventionsnorm“ der UN „Grenzen“ habe, postuliert Müller und bezeichnet den von der NATO zwecks Unterstützung einer Bürgerkriegspartei gegen Libyen geführten Krieg als „schulmäßige(n) Fall der Anwendung von Schutzverantwortung“.[3]
Gerechter Krieg
Ganz ähnlich formuliert der Tübinger Politologe Andreas Hasenclever in seinem Beitrag; für ihn ist das Paradigma der sogenannten Responsibility to Protect (R2P) Ausdruck einer „menschenrechtlich geerdeten Lehre vom gerecht(fertigt)en Krieg“.[4] Hasenclever fungiert als Projektleiter des von der Universität Tübingen Ende letzten Jahres eingerichteten Sonderforschungsbereichs „Bedrohte Ordnungen“. Die hier beschäftigten Wissenschaftler untersuchen einer Selbstdarstellung zufolge die „Regelhaftigkeiten“ von „Revolutionen“, „Krisensituationen“ und sozialen „Umbrüchen“ in den Ländern des globalen Südens – mit dem Ziel, diese zu kontern. Passend dazu organisierte Hasenclever an der Tübinger Hochschule bereits 2010 eine internationale Konferenz über die Abwehr gesellschaftlicher „Radikalisierungsprozesse“ und „terroristischer Gruppen“ – in enger Kooperation mit deutschen und ausländischen Geheimdiensten (
http://german-foreign-policy.com/
german-foreign-policy.com
berichtete [5]).
Proteste
Unterdessen mehren sich Stimmen, die in Forschungsaktivitäten dieser Art einen eklatanten Verstoß gegen die an der Universität Tübingen geltende „Zivilklausel“ sehen. Zuletzt hatte dort die Vergabe einer Honorarprofessur an den Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, für energische Proteste gesorgt – eine Entscheidung die von dem verantwortlichen Politologen Thomas Nielebock bis heute verteidigt wird. Seiner Ansicht nach „müssen in der Lehre alle Positionen zu Wort kommen“ [6]; dies schließt offenbar auch die Beschäftigung von Militärpolitikern und Rüstungslobbyisten als Dozenten ein (
http://german-foreign-policy.com/
german-foreign-policy.com
berichtete [7]).
Eng verkoppelt
Aktuell wendet sich insbesondere eine ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin der Tübinger Hochschule gegen den dortigen Umgang mit der „Zivilklausel“. Irma Kreiten, die für den mittlerweile abgewickelten Sonderforschungsbereich „Kriegserfahrungen“ tätig war, verweist auf eine enge Kooperation der Einrichtung mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr (MGFA). Wie Kreiten dieser Redaktion sagte, seien im Rahmen des Sonderforschungsbereichs entstandene Arbeiten „vom MGFA aufgegriffen“ und „hinsichtlich des heutigen Problems ‚innerer Führung‘ ausgewertet“ worden. Interessiert hätten sich die Militärs außerdem für Studien zur „historischen Truppenbetreuung“ und zur „medialen Präsentation von Kriegsgeschehnissen“.[8] Unter dem Gesichtspunkt einer Selbstverpflichtung der Tübinger Universität auf ausschließlich „friedliche Zwecke“ hätten „sicher einige Teilprojekte, wenn nicht gar die gesamte Ausrichtung“ des Sonderforschungsbereichs „neu diskutiert werden müssen“. Kreiten berichtet darüber hinaus von einem „Widerhall“ aus der „Kolonial- und NS-Zeit“ stammender Forschungsmodelle im Tübinger Sonderforschungsbereich. Das vollständige Interview finden Sie
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58458
hier.
Bitte lesen Sie auch unsere Rezension zu dem Band
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58459
Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium
von Thomas Nielebock, Simon Meisch und Volker Harms.
[1], [2] Sabine Jaberg: Auslandseinsätze der Bundeswehr: Jenseits der grundgesetzlichen Friedensnorm? In: Thomas Nielebock/Simon Meisch/Volker Harms (Hg.): Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium. Hochschulen zum Frieden verpflichtet. Theodor-Eschenburg-Vorlesungen 6, Baden-Baden 2012. S. auch unsere
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58459
Rezension
[3] Harald Müller: Die „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect): Universale Norm oder Schall und Rauch? In: Thomas Nielebock/Simon Meisch/Volker Harms (Hg.): Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium. Hochschulen zum Frieden verpflichtet. Theodor-Eschenburg-Vorlesungen 6, Baden-Baden 2012
[4] Andreas Hasenclever: Krieg als Mittel zum Frieden: Ethisch vertretbar, empirisch haltbar? In: Thomas Nielebock/Simon Meisch/Volker Harms (Hg.): Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium. Hochschulen zum Frieden verpflichtet. Theodor-Eschenburg-Vorlesungen 6, Baden-Baden 2012
[5] s. dazu
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58197
Bedrohte Ordnungen
[6] Thomas Nielebock: Zur Ausgestaltung einer Zivilklausel: Anregungen aus den Tübinger Vorträgen und Debatten. In: Thomas Nielebock/Simon Meisch/Volker Harms (Hg.): Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium. Hochschulen zum Frieden verpflichtet. Theodor-Eschenburg-Vorlesungen 6, Baden-Baden 2012
[7] s. dazu
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58111
Ein gewisser Way of Life
[8] s. dazu
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58458
Kriegserfahrungen
Quelle: http://www.schulfrei-fuer-die-bundeswehr.de