Interview mit Gangolf Stocker, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen das Projekt Stuttgart 21 (in ZivilCourage – Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus – 4/2010)
Warum ist der Protest so groß und erfolgreich?
Weil Stuttgart 21 ein alle Bevölkerungsschichten übergreifendes Thema ist. Im Protest einigt sich z.B. die so genannte (wohlhabende) Halbhöhenlage mit dem (armen) Stuttgarter Osten. Alle sind gut informiert. Es gibt viele „Zugänge“ zum Protest gegen Stuttgart 21. Den Einen geht’s ums Mineralwasser, anderen um den Bonatzbau, die Bäume, wieder anderen, wie mir, um den Erhalt eines funktionierenden Bahnknotens. Die Bürger wollen ihre Zukunft und ihre Stadt mitgestalten. Allen gemeinsam ist die Wut auf die Regierenden, die das Volk einfach ignorieren. Und ein Erfolgsrezept ist, dass wir einen kulturvollen Protest haben, dass die Menschen im Protest lernen. Wir reden miteinander, das ist auch Kultur, die Anonymität der Großstadt weicht einem Miteinander. Es ist eine Freude, am Button beim Einkaufen zu sehen, dass der bisher unbekannte Nachbar mit dabei ist. Die Montagsdemos sind zu einer Art Volkshochschule geworden. Am Zaun entfaltet sich der ganze Witz und Tiefgang der Gedanken, er ist ein Gesamtkunstwerk. Das macht Spaß. Die Menschen entdecken ihre Stärke, wenn sie sich einig sind.
Stuttgart 21
Bei Abriss Aufstand – Die Schwaben proben die Revolution
Von Wolfgang Sternstein (für ZivilCourage – Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus – 4/2010)
Wie kann die Umgestaltung des Bahnhofs der Landeshauptstadt Stuttgart einen derartigen Aufstand auslösen?“, so mag sich mancher Zeitgenosse fragen und sich verwundert die Augen reiben. Sind das noch die fleißigen, strebsamen und kreuzbraven Schwaben, die Baden-Württemberg zum „Musterländle“ der Republik gemacht haben? Gibt es denn wirklich keine wichtigeren Themen?
Es geht nur vordergründig um den Bahnhof und die 60 Kilometer lange Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Es geht vielmehr um Demokratie und gute Regierung, denn je länger der Konflikt andauert, desto mehr „Vetterleswirtschaft“, Kungelei und Filz kommen ans Licht. Es ist eine zornige Bürgerschaft, die sich da lautstark mit Trillerpfeifen, Vuvuzelas, Sirenen und Kochtöpfen Gehör verschafft und sich in langen Demonstrationszügen durch die Stuttgarter Innenstadt wälzt. Ungewöhnlich an diesem Protest ist die Mischung aus Zorn und Heiterkeit, Erbitterung und Volksfeststimmung. Sie äußert sich in einer Vielzahl von einfallsreichen, witzigen Transparenten, Plakaten, Luftballons und Verkleidungen. Bemerkenswert ist die breite Verankerung des Widerstands in der Bevölkerung. Alle Gesellschaftsschichten und Altersgruppen sind vertreten, von den Dreijährigen bis zu Rollator schiebenden Urgroßvätern und -müttern.