Der Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft, Thomas Carl Schwoerer, im Gespräch über die Ostermärsche, warum Gewalt die Ultima irratio ist – und man selbst mit dem IS sprechen muss.
Thomas Carl Schwoerer, 60, ist Verleger und Autor, war Geschäftsführender Gesellschafter des Campus Verlags in Frankfurt am Main und ist seit 2006 Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft -Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen. Gegründet bereits 1892 als Deutsche Friedensgesellschaft, ist die DFG-VK der älteste und größte deutsche Zusammenschluss von Pazifisten und Kriegsgegnern. Viele Mitglieder überlebten den Nationalsozialismus nicht. In den fünfziger Jahren formierten sich die Pazifisten im Widerstand gegen die Wiederbewaffnung neu und erlebten zur Zeit der 68er-Bewegung und bei den Protesten gegen die Pershing-Raketen Anfang der achtziger Jahre einen Aufschwung. Bis heute ist die DFG-VK neben den Kirchen, Verbänden und Gewerkschaften einer der Organisatoren der Ostermärsche.
SZ: Herr Schwoerer, halten Sie selbst die Wange hin, wenn Ihnen jemand auf die andere geschlagen hat?
Thomas Carl Schwoerer: Nein, so weit geht mein politischer Pazifismus nicht. Ich würde mich wehren, wenn ich überfallen werde oder dergleichen. Aber im Grunde ist Ihre Frage die gleiche wie bei der Gewissensinquisition, wie ich sie als 18-Jähriger bei meiner Kriegsdienstverweigerung erlebt habe. Der Unterschied ist, dass ich – im Gegensatz zur individuellen, überschaubaren Entscheidung als Person – als Soldat zu Befehlsausführung, Gehorsam und Töten verpflichtet bin, aufgrund einer für mich oft undurchschaubaren Entscheidung und mit unübersehbaren Folgen.
Gibt es einen Punkt, an dem Sie sagen: Gewaltanwendung ist gerechtfertigt?
Ich würde immer zuerst zu gewaltfreien Methoden greifen. Ich bin auch misstrauisch gegenüber Argumentationen, die Gewaltanwendung als Ultima ratio bezeichnen, denn in den allermeisten Fällen hat sich herausgestellt, dass es eine Ultima irratio ist. Sie ist eine Ausrede zur Gewaltanwendung, weil man behauptet, dass alle Mittel zur gewaltfreien Beilegung eines Konfliktes ausgeschöpft worden seien, dabei stimmt das fast nie.
Gibt es gute Kriege?
Nein, die gibt es nicht. Jeder Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit, meistens mit unzähligen Toten und riesigen volkswirtschaftlichen Schäden.
Was halten Sie von dem Begriff des „verantwortungsethischen Pazifismus“, der Gewalt als Prävention beispielsweise von Genoziden rechtfertigt?
Nicht viel. Es gibt immer gewaltfreie Mittel, die in Fällen von Völkermord jedoch immer im Vorfeld vermieden wurden. In Ruanda etwa wollte der UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali Blauhelme an die Fronten zwischen die Volksgruppen stellen, doch die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen stellten keine oder viel zu wenig Truppen für einen wirklich effektiven Friedenseinsatz ab. Ebenso ist das im Kosovo-Krieg im Vorfeld versäumt worden. Immer mit dem Argument, dies sei zu teuer. Doch die Kriege, die dann geführt wurden, waren ungleich teurer und haben viele Menschenleben gekostet.
Hätte man Hitler auch als Pazifist umbringen müssen?
Bleiben wir kurz in der Geschichte: Hätte man auch als Pazifist Hitler umbringen müssen? Also ein Tyrannenmord, um Schlimmes zu verhindern?
Die Pläne der deutschen Opposition waren lange vor 1939 weit gediehen, Hitler wegen seiner unverantwortlichen Weltkriegsabsichten durch einen Hochverratsprozess zu entmachten. Leider haben diese Bestrebungen vom Ausland keinerlei Unterstützung bekommen und wurden dann durch die Appeasement-Politik [eine Politik der Zugeständnisse, die Hitler die Annexion des Sudetenlandes ermöglichte, Anm.d.Red.] unterlaufen.
Der Pazifist Carl von Ossietzky starb bereits 1936 an den Folgen seiner KZ-Haft, andere Oppositionelle waren entweder geflohen oder saßen selbst im KZ oder in Kerkern. Wer hätte noch Widerstand leisten sollen?
Es gab einen zivilen Widerstand in Deutschland und 1944 den von Wehrmachtsoffizieren verübten Anschlag.
Zurück in die Gegenwart. Am Karfreitag erschoss die israelische Armee im Gaza-Streifen 15 Palästinenser, die sich an einem „Marsch zur Rückkehr“ beteiligt hatten und die Grenze nach Israel überwinden wollten. Die israelische Führung nennt sie Terroristen, obwohl die Demonstration friedlich gewesen sein soll. Wissen Sie mehr darüber?
Ich habe nicht mehr Informationen darüber als Sie. Aber mit dem Vorwurf des Terrorismus wird inzwischen sehr leichtfertig umgegangen. Denken Sie daran, wie der türkische Präsident Erdoğan über die Kurden im eigenen Land redet. Mit der pauschalen Verurteilung als Terroristen rechtfertigt er auch den völkerrechtswidrigen Einmarsch in die nordsyrische Provinz Afrin.
Blicken wir auf Deutschland: Welche Beteiligung erwarten Sie bei den Ostermärschen, die derzeit in Deutschland stattfinden?
Das kann ich schwer vorhersagen. Es ist doch gut, dass sie in über 90 Orten stattfinden. Außerdem startet bereits in anderthalb Monaten der Staffellauf gegen Rüstungsexporte „Frieden geht“ mit den Mitteln des Laufsports, darunter Gehen und Joggen. Vom 21. Mai bis 2. Juni finden zahlreiche Kundgebungen auf der Wegstrecke zwischen Oberndorf, dem Sitz des Waffenproduzenten Heckler & Koch, und Berlin statt.
Unzweifelhaft ist doch, dass sich zu Hochzeiten Hunderttausende an den Ostermärschen beteiligten und heute nur noch zwischen 20 000 und 30 000 Menschen auf die Straße gehen. Woran liegt das?
Da gibt es ein Auf und Ab und es hat viel mit der Hoffnung zu tun, ob sich wirklich etwas ändert. Derzeit gibt es Anlass dazu, hoffnungsfroh zu sein. Vor 50Jahren hat der gewaltfreie Protest maßgeblich dazu beigetragen, dass der Vietnamkrieg beendet wird. Ganz aktuell gibt es Erfolge wie die Verhinderung der Militärmesse ITEC in Köln und Stuttgart und einer Munitionsfabrik in Lahr im Schwarzwald sowie die Verleihung des Friedensnobelpreises an ICAN [eine internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, Anm.d.Red.]. An alledem beteiligt sich die DFG-VK. Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen, sondern sollten uns Martin Luther King zum Vorbild nehmen. Er hat in seinem kurzen Leben so viel erreicht!
Sind Globalisierung und Sozialabbau nicht vielmehr die Themen, die heute noch Menschen auf die Straße bringen?
Das schließt sich gegenseitig nicht aus. Viele Leute haben sowohl gegen TTIP als auch gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr demonstriert.
Wieso regt sich auf der Straße so wenig Protest gegen den Syrienkrieg?
Natürlich hat auch das mit Hoffnung, oder, sagen wir, fehlender Hoffnung zu tun, aber es gibt durchaus Kampagnen wie „Macht Frieden“, die für zivile Lösungen der Feindseligkeiten eintreten.
Was halten Sie von der These, dass solche Konflikte wie in Syrien erst dann beendet werden, wenn alle völlig erschöpft sind?
Das halte ich für realistisch, aber es bedeutet, dass es noch Tausende vielfach völlig unschuldiger Opfer geben wird, bevor jemand ernsthaft verhandelt. Das kann doch niemand wollen. Das Festhalten am alten, militärischen Denken anstelle des rechtzeitigen Verhandelns hat in Syrien zu Hunderttausenden Toten geführt. Andernorts schützen uns Kriege erwiesenermaßen nicht vor dem Terror.
Mit Pazifismus gegen den Islamischen Staat?
Sie plädieren gar für pazifistische Aktionen gegen den sogenannten Islamischen Staat. Ist das angesichts dieser bestialischen Mördertruppe nicht zu viel Idealismus? Wie soll das funktionieren? Sollen dem IS eigene Gebiete zugestanden werden, in denen er herrschen darf?
So ist die Grundidee, ja. Im Gegenzug würde man den IS dazu verpflichten, die Morde und den Terror innerhalb und außerhalb seines Gebietes zu beenden, die Menschenrechte dort zu wahren und auf weitere Expansion zu verzichten. Der militärische Weg hat den IS und seinen Terror demgegenüber noch lange nicht ausgelöscht, unzählige Menschenleben gekostet und Städte wie Mossul völlig zerstört, ohne jede Perspektive eines Wiederaufbaus.
Dasselbe wollen Sie auch den Taliban in Afghanistan zugestehen?
Verhandlungen sind dort eine Chance, den Krieg zu beenden, der inzwischen dreimal so lange dauert wie der Zweite Weltkrieg. Wenn die Taliban direkte Verhandlungen mit den USA fordern, sollten diese darauf eingehen. Der ganze „Krieg gegen den Terror“, der gleichermaßen 17 Jahre dauert, ist demgegenüber ein einziges Fiasko. In den USA wird er jetzt auch „No-Name-War“ genannt, weil die Regierung den Begriff „Krieg gegen den Terror“ nicht mal mehr verwendet, er keinerlei Ziele hat und ohne Perspektive oder Konzepte geführt wird, allerdings unterstützt von der Bundesregierung. Ein gutes Beispiel dafür ist der Einsatz der Bundeswehr in Mali mit fast 1000 Soldaten, der nur der Sicherung eines wackeligen Waffenstillstandes dient, statt dass ernsthaft nach politischen Lösungen für soziale Probleme der Bevölkerung im Norden gesucht wird. Die Tuareg fordern seit den sechziger Jahren ihre Unabhängigkeit, aber die derzeitigen Vereinbarungen sehen nicht einmal eine föderative Struktur des Landes, geschweige denn eine Anerkennung der Kultur und den Zugang zu grundlegenden sozialen Leistungen für dieses Nomadenvolk vor. Weil eine solche politische Lösung fehlt und Dschihadisten nicht mit am Verhandlungstisch sitzen, verschlechtert sich die Lage dort und der Krieg dehnt sich in den Süden Malis aus.
Zu den Dschihadisten in Mali gehört auch al-Qaida …
Das Weiterkämpfen von al-Qaida auch nach 17 Jahren ist ein weiterer Beleg dafür, dass der „Krieg gegen den Terror“ gescheitert ist. Man wäre besser beraten gewesen, Osama bin Ladens Waffenstillstandsangebot von 2006anzunehmen. Doch das haben die USA abgelehnt mit der Aussage, dass man nicht mit Terroristen verhandelt.
Durchaus nachvollziehbar von Seiten Washingtons. Sie halten das für falsch?
Weil es durchaus möglich ist, mit Terroristen zu verhandeln und dies sogar punktuell hinter den Kulissen geschehen ist. Blicken Sie zur IRA nach Nordirland, wo seit 20 Jahren inzwischen ein Friedensabkommen besteht oder gerade nach Kolumbien, wo die Farc nach Verhandlungen den Guerillakampf aufgegeben haben und sich zur politischen Partei wandeln. Wer Frieden will, muss mit seinen Feinden verhandeln, nicht nur mit seinen Freunden. „Verhandeln statt schießen“ muss zur Maxime des Handelns werden – alles andere führt nicht weiter.
Wie sehen Sie die gegenseitigen Ausweisungen von Diplomaten in Russland und dem Westen?
Mit Sorge. Schritte zur Deeskalation wären angebrachter und wir können nur hoffen, dass beide Seiten bald solche ergreifen, damit sich die Eskalationsspirale nicht dreht.
Es gibt seit 1945 eine fast zwingende Logik, die dazu geführt hat, einen weltweiten Krieg zu verhindern. Würdest Du mich angreifen, es wäre auch Dein Tod. Warum setzt die DFG-VK trotzdem auf atomare Abrüstung?
Wir haben nur großes Glück gehabt, dass es bei der Kuba-Krise und nochmals Anfang der achtziger Jahre nicht zu einem Atomkrieg gekommen ist. Die Rhetorik zwischen US-Präsident Donald Trump und dem nordkoreanischen Machthaber ist auch nicht gerade beruhigend.
Nochmal: Pjöngjang kann sich sicher fühlen, eben weil es Atomwaffen besitzt, ein Gaddafi oder Saddam Hussein hingegen wurden beseitigt …
Ich glaube nicht, dass Nordkorea sich so sicher fühlt. Wäre es so, hätte es den USA wohl keine Gespräche angeboten.
Was sind die wichtigsten Ziele und Forderungen der DFG-VK?
Erstens ein Ende der internationalen Kriegseinsätze der Bundeswehr, stattdessen Verhandlungen und politische Lösungen, sowie die Einstellung der Rüstungsexporte u.a. in Krisengebiete. Es ist ein Skandal, dass Deutschland weltweit der viertgrößte Rüstungsexporteur ist und mit deutschen Waffen gerade in Afrin und Jemen Krieg geführt wird. Zweitens der Abzug der US-Atomwaffen aus Büchel, der Beitritt der Bundesregierung zum internationalen Verbot von Atomwaffen, den zwei Drittel der UN-Staaten beschlossen haben, und keine Produktion von kleineren Atomwaffen, die den Krieg wahrscheinlicher machen. Drittens keine Aufstockung des Rüstungsetats oder gar die Verdopplung auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes, wie es die USA und die Nato fordern. Das wäre dann die größte Aufrüstung Deutschlands seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Viertens darf die Bundeswehr keine Kampfdrohnen anschaffen, sie müssen vielmehr verboten werden.
Sollte Deutschland also Verhandler sein, anstatt Waffen in die Welt zu senden?
Ja – und sein Gewicht und guten Ruf in die Waagschale für Verhandlungen auch mit Dschihadisten legen.
Von welcher Partei im Bundestag sehen Sie Ihre Forderungen am stärksten vertreten?
Hauptansprechpartner ist die Linke, punktuell auch die Grünen. Nach dem Eintritt der SPD in eine neue große Koalition sind unsere Hoffnungen in die SPD wegen des Koalitionsvertrags ziemlich enttäuscht worden. Aber auch in der SPD und in der FDP gibt es einzelne Leute, mit denen wir sprechen – und wir würden selbst mit Abgeordneten der CDU reden, wenn sie denn dazu bereit wären.
Wie reagieren Sie auf die Bestrebungen von Rechten, die Friedensbewegung zu unterwandern?
Der DFG-VK-Bundesverband hat beschlossen, mit diesen Leuten nicht zusammenzuarbeiten, weil ihre grundsätzlichen Einschätzungen, ihr Chauvinismus und ihr übersteigerter Nationalismus nicht mit unseren Zielen zusammenpassen. Dies legen wir auch der gesamten Friedensbewegung nahe.
Interview: Lars Langenau; Erschienen auf www.sueddeutsche.de am 1. April 2018