London, Anfang Februar. MayDayRooms, an der stark befahrenen Fleet Street in der Innenstadt. Der „High Court“ ist keine fünf Fußminuten weg, die Themse fließt gemächlich und braun ein paar Schritte weiter am Gebäude vorbei. Unten steht ein Kaffeeverkäufer in der Kälte, ein Spendenmarathon führt am Gebäude vorbei. Drinnen aber treffen Aktivist*innen aus Italien, Katalonien, Finnland, Tschechien, Deutschland und Großbritannien zu einem dreitägigen Workshop zusammen. Sie wollen Fragen nach den (unterschiedlichen) vergeschlechtlichten Logiken der Militarisierung der Jugend in Europa nachgehen.

Auf meinem Weg zum Treffen schiessen mir verschiedene Fragen immer wieder durch den Kopf, denen ich mich an diesem Wochenende stellen will: Wie greifen europäische Militärs und Kriegsministerien Fragen der Geschlechterpolitik für – und vielleicht auch durch – militaristische Narrative auf und passen sich hier Gleichstellungskämpfen an? Welche Entwicklungen sehen wir in den letzten Jahren hin zu „inklusiveren“ Armeen? Wie kann verstanden werden, vor welchen Herausforderungen traditionell „männliche Rekrutierungsarbeit“ in Zeiten sich verändernder Geschlechterstellungen steht? Wie kann antimilitaristisches Engagement Kritik an Militär formulieren und dabei nicht den Gegner*innen von Gleichstellungspolitik das Wort reden?
Vor mir liegt ein Wochenende voll spannendem Austausch, neuer Bekanntschaften und großer Fragen. Natürlich stellt sich gleich zu Beginn die Frage, wie ähnlich oder unterschiedlich die jeweiligen Systeme und Probleme sind, denen wir uns gegenüber sehen. Wir halten fest: Transphobe Diskriminierung in den nationalen Gesetzen Finnlands und Deutschlands stehen transinklusivere Politiken beispielsweise in Großbritannien gegenüber; die verstärkte Militarisierung der Jugendlichen in armen Regionen des Landes wiederum lässt sich in jedem Staat beobachten – unterschiedlich stark zwar, aber dennoch.
Im Laufe des Workshops wurden wir Teilnehmenden uns einig darüber, dass die Zugriffe auf Jugendliche je Staat unterschiedlich vergeschlechtlicht sind, dass es aber zwei Beobachtungen darin gibt:
Erstens fällt auf, dass Armeen und ihre Ministerien immer wieder auf ähnliche Wege zurückgreifen – d.h. die Apparate lernen. Voneinander (ein zu beobachtender globaler Normenwandel bzw. Normenhandel) und von gesellschaftlichen Diskursen um Geschlecht und Rollenbilder. Männer können heute beispielsweise auch als „emotionale, weiche, behutsame, sorgende“ Menschen in militärischer Werbung und Zielsetzung angesprochen werden, das Bild erscheint „gebrochener“ in der Erzählung, keine Rambos, sondern „individuelle Idealisten mit Mut und Herz“ – mit diesen Eigenschaften sind sie für die Erzählung vom „sauberen Krieg“ viel besser zu gebrauchen, als ihre plump skizzierten Vorgänger.
Zweitens können Aktivistinnen aller Länder davon profitieren, ihre Strategien gegen diese Rekrutierung und Militarisierung der Jugend gemeinsam zu besprechen, auszutauschen und darüber zum einen voneinander zu lernen und zum anderen einander vor auftauchenden Problemen zu warnen. Dies betrifft nicht nur Strategien der vergeschlechtlichten Ansprache von Jugendlichen, sondern alle antimilitaristischen Strategien.

Hier fallen im Nachklang einige Punkte auf: Zum einen sind es die jeweiligen Geschlechterpolitiken, die zu unterschiedlichen Graden für eine Rechtfertigung der Militarisierung der Jugend herangezogen werden, die eine Herausforderung antimilitaristischer Arbeit bilden. Hier kämpfen Aktivist*innen aller Länder mit der Herausforderung, Gleichstellung und progressive Gesellschaftspolitik zu verteidigen und im Angriff auf das Militär nicht misogyne/frauenfeindliche oder anderweitig geschlechterdiskriminierende Politiken zu unterstützen oder diesen Vorschub zu leisten. Aktionen wie „No Pride in War“ setzen hier wichtige und übertragbare Signale, um diese Arbeit voranzubringen.
Zum Anderen fehlt in vielen Kontexten das Wissen der Aktivist*innen über die konkrete Situation vor Ort. Viele hangeln sich von Detailwissen zu Detailwissen oder malen nur großflächige Pinselstriche, aber sehen die feineren Vernetzungen nicht. Der Workshop hat diese Leerstellen aufgezeigt. Vielen nationalen Initiativen fehlt eine kontinuierliche Fortbildungs- und Wissensvermittlungsarbeit ihrer Mitglieder: welche Politik fährt das jeweilige Militär? In welcher Tradition steht dieses? Warum gibt es (keine) Frauen oder Frauen* in der Armee? Wie hat Rekrutierung vor 20 Jahren funktioniert und wie funktioniert sie heute? Hier bleibt Wissen auf der Strecke, und die Arbeit fängt oft wieder von vorne an. Hier müssen wir nachsteuern, lokal, national, transnational.
Am Ende des Workshops ist hervorzuheben, dass es dennoch:
Während vor dem Haus aus der vorletzten Jahrhundertwende das Wochenende einen trägen Strom an Touristen vorbeispült, die Regenschirmen hinterherlaufen, vertiefen wir uns in eine gemeinsame Problemanalyse. Eine zentrale Übung hierfür ist das Herausarbeiten der „Stützen der Macht“: Alle Teilnehmenden des Workshops identifizieren die zentralen Stützen, die die Militarisierung am Laufen halten. Dies dient dazu, zentrale Ansatzpunkte und Kampagnenziele zu identifizieren. Erneut zwei Beobachtungen: Zum einen blieben wir im Workshop sehr allgemein und identifizierten alle „großen“ Stützen (Wirtschaftssystem, Rollenbilder, usw.) und keine spezifischeren und handhabbareren Stützen. Dies hätte der weiteren Kampagnenplanung gut getan und machte vor allem transparent, dass die gemeinsame Analyse noch tiefer gehen und noch weiter fortschreiten muss. Hierzu gilt es, eine internationale Arbeitsgruppe anzustoßen.
Zum anderen läuft auch dieser Workshop Gefahr, allgemein linke Verzweiflungsperspektiven ob der Schlechtigkeit der Welt zu betonen und wenig Möglichkeiten für aktive Intervention zu erlauben. Einzelne von uns Teilnehmenden wehren sich zwar gegen die allzu schwarzmalerische Perspektive, aber es bleibt hier die Aufgabe, eine (gemeinsam geteilte) Vision aus der Analyse zu entwickeln.
Ein weiteres Treffen in diesem Jahr ist in Planung, angestoßen durch uns Aktive, die vor Ort waren. Aktivist*innen aus Großbritannien, Italien und Deutschland werden das vorantreiben.
Wir sind in den MayDayRooms nicht alleine. Aktivist*innen lateinamerikanischer Diaspora-Communities tagen parallel zu uns, Planungen für den internationalen Frauenkampftag werden getroffen, und auch das Reinigungspersonal der umliegenden Gebäude trifft sich hier, um eine gemeinsame Gewerkschaft voranzubringen. Eine wichtige und positive Arbeitsatmosphäre: Nie sind wir alleine, überall werden neue Projekte vorangebracht. Das motiviert auch mich. Am Sonntag steht eine je spezifische Vertiefung der Situationsanalyse im je spezifischen Kontext an. Wir versuchen durch verschiedene Methoden, einzelne Aspekte zu erkunden: unsere Problemanalyse, unsere Vision, unsere Strategien, unsere Netzwerke.
1. konkrete gegenseitige Zusagen gab, sich weiter zu vernetzen und sich auszutauschen, Gastbesuche zu machen und darüber die Kontexte in vergleichender Perspektive zu analysieren,
2. einander (mit Material und Artikeln) zu informieren und
3. die Kämpfe transnational zu verbinden und zu verstärken.
Antimilitaristische und pazifistische Gegnerschaft gegen die Militarisierung der Jugend scheint notwendiger denn je und sie kann gelingen. Dafür müssen wir auch die Möglichkeiten der transnationalen Kooperation nutzen! Am Ende dieses langen Workshops stehe ich auf regennasser Strasse und treffe einen lieben Freund, vor dem Pub liegen die Militärschiffe auf der Themse. Eine deutlich sichtbare Manifestation von so vielem, das uns umgetrieben hat in den letzten Tagen. Es bleibt Arbeit zu tun. Aber so können wir die Ohnmacht überwinden.
David Scheuing, DFG-VK-Vertreter bei den War Resisters‘ International