Belarus wird von einem Autokraten regiert, der derzeit seine Wiederwahl Anfang 2025 mit massiven Verhaftungen gegen oppositionelle Menschen und deren Angehörige vorbereitet. Die Organisation „Unser Haus“ (Nash Dom) setzt sich für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in Weißrussland ein, insbesondere für die Unterstützung junger Menschen, die vor dem Militär fliehen. Aus Ihrem litauischen Exil in Vilnius gewährt uns die Preisträgerin des Ludwig-Baumann-Preises Olga Karach (45), Journalistin und Leiterin von Nash Dom, aufrüttelnde Einblicke, was ziviles Widerstehen unter existentieller Bedrohung bedeutet – und wie existentiell wichtig Widerstand gegen Militarismus in jeglicher Form für uns alle ist.
Olga, was sind in diesen Tagen Ihre ersten Gedanken am Morgen?
Ich wache jeden Morgen mit gemischten Gefühlen auf. Normalerweise sind die ersten Gedanken, die mir in den Sinn kommen, wie viel ich heute noch zu erledigen habe und wie viel ich gestern nicht geschafft habe. Da ist dieses ständige Gefühl der inneren Unzufriedenheit. Das beunruhigt mich sehr. Besonders jetzt, wo auch die Nachrichten immer besorgniserregender werden, verspüre ich den Drang, mehr zu tun, mehr zu erreichen, meine Zeit effektiver zu managen. Leider stoße ich mit meinen 45 Jahren an die Grenzen, die uns unser Körper setzt. Aber es gibt auch ein zweites Gefühl, mit dem ich morgens aufwache: Dankbarkeit. Ich bin sehr dankbar gegenüber meiner Familie, meinen Kollegen, meinen Freunden, gegenüber allen, die mich unterstützen. Mir ist klar, dass ich ohne sie nicht überlebt hätte.
In der heutigen Welt muss der zivile Widerstand aktiviert werden wie nie zuvor.
Ich stelle mir vor, dass Sie im litauischen Exil in ständiger Angst vor Abschiebung leben. Und dennoch versuchen Sie, so aktiv wie möglich zu sein. Können Sie ihre persönliche Situation schildern?
Was eine mögliche Abschiebung betrifft, so kann ich nicht sagen, dass ich in dieser Angst lebe. Es ist sicherlich ein Risiko, dem man sich als Menschenrechtsverteidigerin stellen muss, aber leider gewöhnt man sich daran. Ständiger Druck ist ein fester Bestandteil dieser Arbeit. Wenn man Rechte verteidigt, bedeutet das unweigerlich, dass es diejenigen gibt, die diese Rechte verletzen. Und in diesem Fall ist es leider nicht nur das belarussische Regime, sondern auch die litauische Regierung. Insbesondere das Migrationsamt und das Amt für nationale Sicherheit Litauens. Die Leute in diesen Behörden verletzen auch die Rechte der Belarussen, und das ist bereits Teil der staatlichen Politik geworden.
Für mich ist das Schmerzlichste an dieser Situation vielleicht nicht einmal die Möglichkeit einer Abschiebung oder etwas anderes, das mir widerfährt. Was mich viel mehr schmerzt, ist, dass der Druck auf meine Angehörigen gerichtet wurde. Sie begannen, Druck auf meinen Mann auszuüben. Mein Mann ist ein unabhängiger Journalist, dem in Belarus eine Gefängnisstrafe droht, weil er Redakteur bei unabhängigen „extremistischen“ Medien war und seine Artikel in Belarus als extremistisch eingestuft wurden. Das bedeutet, dass ihm dort bis zu sieben Jahre Gefängnis drohen. Die litauische Migrationsbehörde hat ihn zu einem illegalen Einwanderer gemacht, und er ist ohne eigenes Verschulden in diese Situation geraten. Jeden Tag warteten wir darauf, dass Leute kommen, ihn abholen, ihn in ein Auto setzen und zur Grenze bringen würden. Die Drohungen und der Druck waren schrecklich. Irgendwann machten sie auch mich zu einem illegalen Einwanderer. Grenzbeamte kamen zu mir nach Hause, filmten mich und stellten seltsame Fragen. All dies wurde getan, um uns einzuschüchtern und zu diskreditieren.
Im Kern geht es aber nicht um meinen persönlichen Fall, sondern um etliche Fakten: um dokumentierte Beweise zu der Diskriminierung von Belarussen in Litauen, zu Verstößen gegen europäische Konventionen. Dies betrifft auch belarussische Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die besonders gefährdet sind, vor allem, wenn man bedenkt, dass Belarus jederzeit in einen militärischen Konflikt mit der Ukraine hineingezogen werden könnte. Niemand kann garantieren, dass die belarussische Armee nicht in die Ukraine einmarschiert, wenn es den Interessen von Putin oder Lukaschenko dient. Das bedeutet, dass diese Menschen dringend eines besonderen Schutzes bedürfen.
Ihre Erfahrungen werfen kein gutes Licht auf die Einhaltung von Menschenrechten in Litauen…
Die Abschiebung von Belarussen zurück nach Belarus ist im Grunde ein Verrat. Litauen nimmt diese Menschen auf, schickt sie zurück nach Belarus, und niemand weiß, was danach mit ihnen geschieht. Wir wissen nicht, ob sie verhaftet werden, im Gefängnis sitzen oder gefoltert werden; es fehlen Informationen, und das ist wirklich entsetzlich. Wir müssen diese Menschen schützen, ihnen helfen, nicht in diesen Krieg hineingezogen zu werden und sie davor bewahren, Teil der verbrecherischen Aggression Putins zu werden.
Ich glaube, dass Litauen kein Recht hat, die Belarussen auf diese Weise zu behandeln. Es verstößt gegen die europäischen Konventionen, zu deren Einhaltung es sich verpflichtet hat. Litauen will diese Verpflichtungen nicht erfüllen, und anstatt sich den Konsequenzen zu stellen, versucht es, diejenigen, die darüber sprechen, zum Schweigen zu bringen. Für mich spielt es keine Rolle mehr, was Litauen, Russland oder das belarussische Regime tut; im Grunde fühlt sich das alles gleich an. Es handelt sich um militarisierte staatliche Systeme, die nicht helfen, sondern im Gegenteil darauf abzielen, jede Form von zivilem Aktivismus zu zerstören. Sie weigern sich, die Menschenrechte der Belarussen anzuerkennen. Wie kann man in einer solchen Situation seinen Verstand bewahren, das Vertrauen in andere aufrechterhalten und vermeiden, in Paranoia zu verfallen?
Diese Angst, die das Regime vor den belarussischen Frauen hat, inspiriert uns.
Haben Sie denn die Hoffnung, dass sich die politische Situation durch den jüngsten Erfolg der Sozialdemokraten bei den Parlamentswahlen unter Parteichefin Vilija Blinkevičiūtė verbessern wird?
Wir sind sehr zuversichtlich, dass sich mit der neuen Regierung der sozialdemokratischen Koalition Litauens die Situation für die Belarussen in Litauen verbessern wird. Mehrere hochrangige Sozialdemokraten haben bereits öffentlich ihre Absicht erklärt, die derzeitige Politik zu überdenken, was uns große Hoffnung gibt. Nach den Aktionen der litauischen Christdemokraten und rechtsextremer Politiker ist das Vertrauen zwischen Litauern und Belarussen jedoch beschädigt worden. Derzeit trauen die Belarussen den Litauern nicht, und die Litauer den Belarussen nicht. Wissen Sie, wir haben viele litauische Bürger, die das Vorgehen der Regierung nicht unterstützt haben. Sie kommen zu uns und sagen: „Wir sind bei euch, haltet durch, gebt nicht auf, kämpft weiter!“ Diese Menschen bringen ihre Missbilligung der Politik der litauischen Regierung offen zum Ausdruck, doch selbst gegenüber diesen unterstützenden Litauern bleiben die Belarussen zurückhaltend. Die Wiederherstellung des Vertrauens, das zwischen Litauern und Belarussen verloren gegangen ist, wird eine Herausforderung sein. Dies lässt sich nicht allein durch einige wenige Politiker oder durch die Verbesserung des Legalisierungsprozesses für Belarussen in Litauen ändern. Viele Belarussen, vor allem in der Geschäftswelt, die aufgrund von Diskriminierung weggehen mussten, glauben nicht mehr an Litauen, obwohl sie es einst als ihre zweite Heimat bezeichneten und bereit waren, es mit ganzem Herzen zu verteidigen.
Kann die Organisation „Unser Haus“ denn in ihrer Heimat weiterarbeiten?
Wir haben immer noch Mitglieder unserer Organisation, die in Belarus bleiben und weiterhin viel tun. Natürlich geschieht dies auf einer extrem unsichtbaren Ebene. Wir können nicht öffentlich darüber sprechen oder diese Aktionen zur Schau stellen, weil der Druck auf „Unser Haus“ immens ist. Ich kann getrost sagen, dass unsere Organisation heute wahrscheinlich die am stärksten unterdrückte in Belarus ist. Das Regime fürchtet uns, und es ist seltsam, aber ich denke oft, dass das belarussische Regime viel mehr an uns und unsere Stärke glaubt als wir selbst. Der Druck, den wir von allen Seiten spüren, ist so groß, dass ich manchmal denke: „Wir sind eigentlich stärker, als wir meinen.“ Immerhin haben wir unter diesem Druck überlebt, arbeiten weiter und wachsen. Es ist wirklich erstaunlich, und diese Angst, die das belarussische Regime vor uns, den belarussischen Frauen, hat, inspiriert uns.
Überwachung, Einschüchterung, Verfolgung – wie reagiert die Diktatur denn noch auf diesen Mut?
Die Repressionen des belarussischen Regimes sind so stark, dass ich zum Beispiel nicht zum Militär gehen darf. Das ist wahrscheinlich eine der absurdesten Formen der Repression, mit denen ich konfrontiert wurde. Man hat mir auch verboten, Massenvernichtungswaffen zu finanzieren, was natürlich völlig lächerlich und fast schon komisch ist. Das Regime hat immer noch nicht verstanden, dass es uns nicht alles verbieten kann. Ja, sie können mich zum Tode verurteilen oder mich als Terroristen oder Extremisten bezeichnen. In der Tat haben sie sogar alle Strukturen von „Unser Haus“ als extremistisch bezeichnet. Aber das sind nur Etiketten, die sie mir aufzwingen wollen – mehr nicht. Trotz ihrer Bemühungen, mich zurück ins Land zu bringen, mich zu töten oder zu inhaftieren, sind dies lediglich Versuche. Und trotz alledem ist es ihnen nicht gelungen, ihr Ziel zu erreichen. Sie können uns nicht aufhalten. Wir sind stärker.
Woher nehmen Sie die Kraft für Ihre Arbeit und Ihren Widerstand?
Wissen Sie, das mag etwas trocken und vielleicht zu pompös klingen, aber leider ist es die Erkenntnis, dass sich das Leben für viele Menschen sehr verschlechtern wird, wenn wir unsere Arbeit einstellen, und das lässt mich jeden Tag aufstehen und meinen Kampf fortsetzen. Das sind keine leeren, großspurigen Worte – das ist die Realität, in der wir leben. Die Menschen hier sind in einer sehr schwierigen Situation. Manchmal bin ich so müde, dass ich das Gefühl habe, auszubrennen, dass ich keine Kraft mehr habe, irgendetwas zu tun. Manchmal habe ich nicht die Kraft, aufzustehen, und wie jeder normale Mensch leide ich unter Depressionen, Verzweiflung und schweren Gedanken und Gefühlen. All das ist das Ergebnis von vier Jahren ohne Ruhe. In diesen Jahren hatte ich nicht einen einzigen freien Tag – ganz zu schweigen davon, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wann ich das letzte Mal acht Stunden am Stück geschlafen habe.
Aber trotz alledem weiß ich mit Sicherheit, dass unsere Arbeit gebraucht wird, dass wir von den Menschen gebraucht werden. Ich sehe das jeden Tag. Ich sehe es in den Augen derer, die sich an uns wenden und um Hilfe bitten. Ich sehe es in den müden, erschöpften Gesichtern derer, denen wir helfen. Ich sehe es, wenn die Menschen uns umarmen, uns danken und anfangen zu weinen. Vielleicht inspiriert es nicht im traditionellen Sinne, aber es gibt mir ein klares Verständnis: Wir alle müssen den Krieg sofort beenden! Egal wie schwer es ist, wir müssen weitermachen.
Ich bekenne, dass ich durch die Friedensbewegung endlich, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, wirklich verstanden habe, was Solidarität bedeutet und was Unterstützung wirklich ist. Das sind nicht nur schöne Worte. Ich erhalte enorme Unterstützung von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, aus allen Ecken der Welt und in vielen verschiedenen Formen. Vor allem aber weiß ich, dass diese Unterstützung mehr ist als nur Hilfe. Sie ist eine Kraft, die es uns ermöglicht, trotz aller Schwierigkeiten voranzukommen. Je mehr Menschen bereit sind, diesen Staffelstab der Güte („baton of kindness”) weiterzugeben, desto stärker wird unsere Bewegung. Solidarität ist unsere Stärke. Mit ihr werden wir mit Sicherheit eine Welt erreichen, in der Frieden wieder möglich ist.
Es ist wichtig, dass diejenigen, die sich weigern, in den Krieg zu ziehen, sich nicht als Ausgestoßene fühlen.
Kommen wir noch einmal auf die Kraft und ihre Reserven zu sprechen: In einer unserer Korrespondenzen kommentierten Sie den Zustand von Aktivistinnen und Aktivisten lakonisch mit der Bemerkung, das ständige Erschöpfung einfach ein Teil ihrer Arbeit sei – „davon käme man nicht los“ (I guess constant exhaustion is just part of our work—there’s no escaping it)…
Oja, das gilt vor allem auch für Aktivisten und Menschen, die von Repressionen betroffen sind. Um Ihnen zu helfen, kann es wichtig sein, so genannte „Friedensräume“ zu schaffen. Das sind Räume, in denen Antikriegsaktivisten wieder Kraft schöpfen und nötige Unterstützung erhalten können. Wir müssen uns bewusst sein, dass Aktivistinnen und Aktivisten mit vielen Herausforderungen konfrontiert sind: Bedrohungen durch die Behörden, rechtliche Repressionen, die Notwendigkeit, sich zu verstecken und generell unter ständigem Stress zu leben. Es ist vielleicht möglich, Programme zu organisieren, die es Menschen aus Belarus ermöglichen, wenigstens für ein oder zwei Wochen zu spüren: Es gibt sichere Orte auf der Welt. Und mehr noch: Dass wir Teil von etwas Größerem und in unserem Kampf für Frieden nicht allein sind.
In Ihrem Vortrag sagten Sie, dass die meisten Menschen in Belarus und der weiten Region eine romantische Vorstellung vom Krieg haben. Was bedeutet das?
Gewalt und Krieg werden in einigen Teilen der Gesellschaft zunehmend mit Konzepten von Männlichkeit und Weiblichkeit verknüpft. Die Romantisierung des Krieges, insbesondere als Mittel zur Definition „echter“ Männer und Frauen, ist in der Tat ein gefährlicher Weg. Es stellt sich heraus, dass man ein echter Mann ist, wenn man bereit ist, zu den Waffen zu greifen, an die Front zu gehen, zu töten oder getötet zu werden. Und eine echte Frau ist eine Frau, die alle ihre Lieben – Ehemänner, Söhne, Väter – dazu inspiriert, ebenfalls in den Krieg zu ziehen, zu töten oder getötet zu werden. Wenn ein „echter Mann“ oder eine „echte Frau“ mit der Ausübung von Gewalt gleichgesetzt wird – sei es, indem man in den Krieg zieht oder seine Angehörigen dazu ermutigt -, dann verzerrt dies die Vorstellung von Heldentum. Dieses Bild des „Echten“ durch Gewalt und Tod ist eine Definition, die heute an Popularität gewinnt, und ich halte sie für extrem gefährlich und verzerrend.
Wir als Gesellschaft müssen darüber nachdenken, dass Gewalt nicht der Maßstab für Heldentum sein sollte. Schließlich galt es vor dem Krieg als schlechte Tat, wenn ein Mensch tötete. Jetzt ist, so paradox es klingen mag, jemand, der loszieht, um zu töten, plötzlich ein Held. Und während früher der Verzicht auf Gewalt als das Richtige angesehen wurde, werden Menschen, die auf den Krieg verzichten, heute gesellschaftlich verurteilt. Menschen, die sagen: „Ich bin ein Mann, aber ich will nicht töten“, werden jetzt nicht nur stigmatisiert, sondern auch von Staat und Gesellschaft unter Druck gesetzt. Das ist sehr beunruhigend. Wir müssen gegen diese Romantisierung des Krieges und die Verherrlichung von Gewalt ankämpfen. Eine Neudefinition von Heldentum im Sinne von Mitgefühl, Verantwortung und Zurückhaltung ist entscheidend, um den Kreislauf von Gewalt und Krieg zu durchbrechen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Friedensstifter neue Rollenmodelle für Männer und Frauen entwickeln müssen, die nicht gewalttätig sind. Wir können heldenhaft sein, ohne auf Gewalt zurückzugreifen – das sollte die Botschaft sein, die wir an die nächste Generation weitergeben. Es ist wichtig, dass diejenigen, die sich weigern, in den Krieg zu ziehen, sich nicht als Ausgestoßene fühlen, sondern stolz auf ihre Entscheidung sind.
Sehen Sie denn inmitten der aufflammenden Aufrüstung überhaupt noch eine Chance für das Konzept des zivilen Widerstands?
Wenn wir über zivilen Widerstand diskutieren, ist seine Bedeutung deutlicher denn je, insbesondere im heutigen geopolitischen Kontext. Wir beobachten eine zunehmende Tendenz, dass sich immer mehr Politiker aus verschiedenen Gründen von der universellen Anerkennung der Menschenrechte entfernen. Sie vergessen, dass es bei den Menschenrechten keine Unterschiede aufgrund der Nationalität oder der geografischen Lage geben darf. Dies ist ein entscheidender Punkt. Nicht nur in Russland und Belarus, sondern auch in Ländern wie der Ukraine, den baltischen Staaten, Polen, Deutschland und sogar im Vereinigten Königreich ist ein deutlicher Anstieg der Angriffe auf Friedensaktivisten, Klimaaktivisten, Menschenrechtsaktivisten und andere, die für Gerechtigkeit kämpfen, zu beobachten. Diese Angriffe stehen im Zusammenhang mit dem Wiederaufleben des Militarismus, der eine Reihe weiterer Probleme mit sich bringt. Dazu gehören die Rückkehr zu patriarchalischen Werten, die Militarisierung von Kindern, die Abkehr von den Grundsätzen der Klimagerechtigkeit und zahlreiche andere Bedrohungen, die vielfältig und doch miteinander verknüpft sind.
In der heutigen Welt muss der zivile Widerstand aktiviert werden wie nie zuvor. Wir müssen alle unsere Anstrengungen darauf verwenden, ihn aufzubauen und zu stärken. Wenn wir über die Frontlinie zwischen Belarus, Russland, der Ukraine, den baltischen Staaten, Polen und anderen sprechen, müssen wir eine Friedenslinie entlang dieser unsichtbaren Grenze schaffen. Dazu müssen wir uns gemeinsam darum bemühen, diese Friedenslinie zu erweitern und auszubauen. Ohne zivilen Widerstand, ohne gewaltfreien Widerstand, können wir nichts aufbauen. Heute ist das Konzept des zivilen Widerstands unsere oberste Priorität.
Haben Sie selbst Vorbilder?
Ich habe viele Inspirationsquellen und Vorbilder, denn in Belarus gibt es eine große Anzahl von politischen Gefangenen, die für den Frieden gekämpft haben. Das sind Menschen mit unglaublicher Belastbarkeit und Mut, die alles geopfert haben, um Krieg und Gewalt zu beenden. Ihre Leistung ist unbeschreiblich, und sie sind alle Vorbilder für mich.
Wir haben viele Beispiele von Priestern, die hinausgingen und für den Frieden beteten, wohl wissend, dass sie Verhaftung und Gefängnis erwarteten. Sie wurden verhaftet und gefoltert. Es gibt auch das Beispiel eines jungen Offiziers, der eine glänzende Karriere in der belarussischen Armee hätte machen können, aber stattdessen geheime Dokumente veröffentlichte, die bestätigten, dass Lukaschenko die Armee einsetzen wollte, um friedliche Proteste in Belarus zu unterdrücken, und dass die belarussische Armee sogar auf unbewaffnete Menschen schießen würde. Dieser Akt, der den Einsatz der Armee gegen friedliche Demonstranten beendete, war ein echte Heldentat, über die nur wenige Menschen sprechen. Er wurde verhaftet, wegen Verrats an seinem Heimatland zu 19 Jahren Haft verurteilt und er wird im Gefängnis brutal gefoltert. Aber dieser Mann gibt nicht auf. Ich bin sicher, dass seine Leistung als die wichtigste Tat in die Geschichte von Belarus eingehen wird.
Ich fühle mich auch durch die Menschen in meinem Umfeld sehr bestärkt, denn viele von ihnen haben wahre Heldentaten vollbracht, die unbemerkt geblieben sind. Ein solcher Fall war, als eine meiner Kolleginnen von einer Partnerorganisation einem Teenager sehr wahrscheinlich das Leben rettete: Ein 16-jähriger Junge war während einer Demonstration von Polizeibeamten brutal vergewaltigt worden. Ihm wurde mit einem Polizeiknüppel der Gaumen durchbohrt. Der Junge landete auf der Intensivstation, wo er mehrere Tage lang im Koma lag. Nach dieser Gewalttat war klar, dass er nicht mehr lebend herauskommen würde, dass die Polizei ihn als Zeugen und Opfer dieses schrecklichen Verbrechens beseitigen würde. Ein Strafverfahren war bereits eingeleitet worden, und die Polizei bereitete sich darauf vor, ihn direkt von seinem Krankenhausbett ins Gefängnis zu bringen. Doch meine Kollegin zog sich unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit einfach einen Krankenhauskittel an und betrat die Station mit einem Plüschbären im Arm. Sie nahm den Jungen aus dem Krankenhaus mit und brachte ihn in ein anderes Land. Diese Tat war unglaublich mutig und gewagt, denn im Krankenhaus wurde er von der Polizei bewacht. Der Junge ist heute in Sicherheit. Ich frage mich: Hätte ich mich getraut, so etwas zu tun, um ein Kind vor einem gewaltsamen Tod zu bewahren? Heute antworte ich: Ja, ich würde es tun, nicht zuletzt, weil ich von einem solchen Beispiel von Heldentum weiß.
Außerdem gibt es in meinem Bekanntenkreis eine Gruppe freiwilliger Frauen, die sich für die Rettung zurückgelassener Tiere – Katzen und Hunde – einsetzen. Wenn Menschen aus Belarus illegal über die Grenze fliehen müssen, können sie ihre Haustiere oft nicht mitnehmen. Wenn sie dann in Litauen ankommen und das Gefühl haben, dass sie zumindest nicht so bald verhaftet werden, wollen sie wieder mit ihnen vereint werden. Die Verbringung von Tieren nach Litauen ist für belarussische politische Flüchtlinge jedoch sehr kompliziert, und Litauen stellt ihnen erhebliche Hindernisse in den Weg. Dennoch organisieren diese Frauen Hilfe, indem sie Tiere retten und ihnen helfen, zu ihren Besitzern zurückzukehren.
Mehr denn je gilt: Nur die internationale Aufmerksamkeit bewahrt auch mich vor Abschiebung und Gefängnis.
Olga, Sie sind selbst Mutter. Was wünschen Sie sich für die jüngere Generation? Was für Ihre Kinder?
Ich bin zutiefst besorgt und traurig über die Tatsache, dass die Wehrpflicht in vielen Ländern wieder eingeführt wird. In Litauen ist sie bereits zurückgekehrt, die Wehrpflicht besteht seit einem Jahr. Ich weiß, dass in Deutschland, Italien und anderen Ländern ähnliche Diskussionen geführt werden, was besorgniserregend ist. Ich würde mir aufrichtig wünschen, dass die junge Generation ohne Waffen in der Hand aufwächst, ohne etwas über Krieg lernen zu müssen, verstehen Sie? Als Kind besuchte ich eine sowjetische Schule, und wir hatten obligatorischen Militärunterricht, die so genannte militärische Grundausbildung. Von der 5. bis zur 6. Klasse wurde uns das Kämpfen beigebracht: Wir trugen Gasmasken und spielten ein Spiel namens „Zarnitsa“ (russisch Зарница, in etwa „Wetterleuchten“), bei dem eine Seite versuchte, die feindliche Armee zu finden und zu vernichten. Wir lernten, Kinder zu fangen, die die Rolle der feindlichen Armee spielten. Uns wurde auch buchstäblich das Schießen beigebracht: Im Unterricht bauten wir Kalaschnikow-Sturmgewehre zusammen und zerlegten sie. Im Keller unserer Schule gab es einen riesigen Schießstand, auf dem wir das Schießen übten. Keiner von uns, geschweige denn unsere Eltern, hielt das für schlimm. Wir wussten nicht, was es bedeutet, Kindern das Töten beizubringen.
Das wurde mir erst später klar, als ich Teil der Friedensbewegung wurde. Heute kehrt diese militärische Ausbildung in die belarussischen Schulen zurück. Darüber hinaus werden militärisch-patriotische Klubs gegründet, in denen die Kinder tatsächlich zu professionellen Militärs ausgebildet werden. Diese Klubs funktionieren nach dem Vorbild von Militäreinheiten, und sie lehren sie zu schießen, militärische Ausrüstung zu bedienen, mit Waffen umzugehen – alles, was echte Soldaten lernen. Und das ist es, was ich der jungen Generation wünsche: dass sie all das nie lernt und ihr auch nicht gedroht wird, so etwas lernen zu müssen. Kein einziger Mensch aus dieser Generation soll jemals gezwungen sein, Soldat zu werden, zu den Waffen zu greifen und sich am Krieg zu beteiligen. Ich wünsche mir, dass wir uns alle gemeinsam dafür einsetzen, dass der Soldatenberuf nur noch ein Teil der Geschichte ist, ein verbleichendes Phänomen, das der Vergangenheit angehört.
Verschiedene Organisationen machen anlässlich des Tags der Menschenrechte auf die prekäre Lage von asylsuchenden Deserteuren und Kriegsdienstgegnern aufmerksam. Was ist aus Ihrer Sicht zu tun?
Bis heute erfordert die Situation der belarussischen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure in Litauen dringend unser Eingreifen und unsere Unterstützung. In erster Linie sind Solidarität, Rechtshilfe, humanitäre Unterstützung und die Verbreitung von Informationen über die Probleme dieser Menschen nach wie vor von zentraler Bedeutung.
Wir müssen belarussischen Asylverweigerern und Überläufern, die sich in Litauen aufhalten, Rechtsschutz gewähren. Das Problem beschränkt sich nicht auf die Verweigerung des politischen Asyls und die Gefahr der Abschiebung nach Belarus. Um gegen solche Entscheidungen vorzugehen, müssen wir in der Lage sein, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen und litauische Menschenrechtsverteidiger einzubeziehen.
Es gibt viele Probleme, und sie alle erfordern rechtliche Unterstützung und Intervention. In Litauen gibt es beispielsweise die paradoxe Situation, dass die Migrationsbehörde bei der Beantragung von politischem Asyl den Antragstellern die Pässe wegnimmt und ihnen eine so genannte „Karte“ aushändigt, die aber keine Rechtskraft hat und kein Ausweisdokument ist. Diese Menschen bleiben eineinhalb Jahre lang ohne Papiere – so lange dauert das Asylverfahren, was ihr Leben erheblich erschwert: Sie können nicht arbeiten, sie können kein Bankkonto eröffnen, sie sind als Menschen ohne Papiere in vielerlei Hinsicht eingeschränkt. Die litauische Hilfe beträgt genau Null Euro, keine Wohnung, keine Lebensmittel, nichts. Das heißt, ein Mensch findet sich auf dem Gebiet Litauens in einem Zustand der Obdachlosigkeit, ohne Mittel zum Lebensunterhalt, ohne das Recht auf Arbeit, ohne jede Hilfe, ohne irgendetwas. Die Menschen sind völlig verzweifelt und wissen nicht, wie sie überleben und was sie tun sollen. Gleichzeitig fühlen sie sich völlig entrechtet, weil sie auch kein Geld für Anwälte haben.
Die Situation ist abnormal. Die Menschen sind gegen den Krieg, die Menschen sind gegen den Terror, die Menschen wollen sich nicht an den Militäraktionen Russlands gegen die Ukraine beteiligen, die Menschen haben Angst, dass Putin sie in diesen Krieg hineinziehen wird. Und alles, was sie von Litauen bekommen, ist keine Unterstützung und Solidarität, sondern im Gegenteil eine sehr merkwürdige Stigmatisierung, Hetze, lächerliche Anschuldigungen und eine Haltung ihnen gegenüber, als ob sie Feinde wären und als ob sie die Ukraine angegriffen hätten. Um diese Situation zu ändern, brauchen wir finanzielle Mittel, um Anwälte und Menschenrechtsverteidiger zu bezahlen, die Klagen einreichen und die Rechte dieser Menschen vor Gerichten und staatlichen Stellen verteidigen können.
Wir benötigen auch dringend Mittel zur Deckung der Grundbedürfnisse von belarussischen Asylbewerbern. Dabei handelt es sich in erster Linie um Lebensmittel, medizinische Versorgung und Unterkünfte. Wir arbeiten mit Lebensmittelbanken in Litauen zusammen, aber leider haben sich die Bedingungen in letzter Zeit geändert. Früher haben wir die belarussischen Asylbewerber mit Essen versorgt, mit etwa 400 Kilogramm pro Woche bzw. anderthalb Tonnen pro Monat. Heute haben wir dafür einfach kein Geld mehr.
Unsere Arbeit erfordert auch öffentliche Aufmerksamkeit. Um die Rechte von belarussischen Verweigerern und Deserteuren zu schützen, brauchen wir unbedingt Unterstützung in Form von Petitionsunterschriften und internationalem Druck. Wir brauchen dringend die Hilfe von Menschen, die solche Petitionen verfassen und vorbereiten und sie verteilen können.
Nennen Sie uns ein konkretes Beispiel.
Ich würde im Fall von Nikita Svirid gerne eine Petition an den Bundestag schreiben, und ich möchte alle deutschen Partner in der Friedensbewegung bitten, Unterschriften zu sammeln, damit der Deutsche Bundestag diese Frage bei der litauischen Regierung zur Sprache bringt, nämlich wie es kommt, dass sie einen jungen Weißrussen abschieben will, der vor der Armee geflohen ist, weil er Angst hatte! Nikita unterstützt die russische Aggression nicht, er hat keine Kriegsverbrechen begangen, er ist erst 19 Jahre alt, und heute droht ihm die Abschiebung nach Belarus, also die Todesstrafe. Diese Bedrohung ist eine denkbar schlechte politische Botschaft für alle belarussischen Männer: Sie sehen, dass ein Kampf für den Frieden, ein Kampf gegen die Gewalt, ein Kampf gegen den Krieg nicht nur nicht von Europa in Gestalt Litauens unterstützt wird, sondern im Gegenteil, von Litauen verraten wird. Wir brauchen Hilfe, um diese und ähnliche Petitionen richtig durchzubringen und Unterschriften zu sammeln. Dies wird dazu beitragen, die Aufmerksamkeit der europäischen Parlamente auf sich zu ziehen und den internationalen Druck auf Litauen und andere Länder zu erhöhen, die zögern, Antikriegsaktivisten aus Belarus zu unterstützen.
Es ist sehr wichtig, dass sich die Informationen verbreiten, denn wir müssen heute darüber sprechen, dass es überall eine riesige militaristische Propaganda gibt, und zwar in sämtlichen Medien. Es gibt nicht nur Zensur in den russischen und belarussischen Staatsmedien, sondern generell ist es so giftig geworden, über Frieden und Friedensinitiativen zu sprechen, dass wir uns nur darauf verlassen können, dass die Informationen über soziale Netzwerke von Freund zu Freund weitergegeben werden. Und deshalb appellieren wir auch an Sie, unsere Materialien zu übernehmen und so weit wie möglich zu verbreiten.
Und was ist mit Ihnen, Olga? Wie können wir Sie unterstützen?
Ohne die Unterstützung von Organisationen wie der deutschen Friedensbewegung und anderen internationalen Partnern hätten viele Belarussen, darunter auch ich und mein Mann, für lange Zeit in Belarus inhaftiert werden können. Und ja, es gilt mehr denn je: Nur die internationale Aufmerksamkeit bewahrt auch mich vor einer Abschiebung nach Belarus und dortigem Gefängnis. Es gibt eine sehr aktive Solidaritätskampagne (in sozialen Netzwerken zu finden unter #protection4Olga). Ich bin allen sehr dankbar, die sich daran beteiligen. Sie schreiben Briefe, sie wenden sich an das deutsche Außenministerium, sie appellieren an die litauische Botschaft, sie beschäftigen die deutschen Botschaften, sie sprechen ihre Abgeordneten an, sie machen Mahnwachen vor den belarussischen und litauischen Botschaften. Dank dieser Aktivitäten bin ich immer noch frei.
(Die Fragen stellte Marcus Angebauer)